Sektionsredner
Dr. Thomas Vongehr (Leuven, B) - Curriculum Vitae
Handlung als lebensweltlich-sozialer Grund. Überlegungen im Anschluss an die Phänomenologie Husserls
Abstract
Die von Edmund Husserl in seinem phänomenologischen Hauptwerk, den 1913 veröffentlichten "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie", entworfene Theorie der Intentionalität erhebt den Anspruch, auch Handlungen nach dem Muster intentionaler, sei es noetisch oder noematisch gerichteter Bewusstseinsakte aufzuklären. So wie wir im Wahrnehmen, Urteilen, Erinnern auf etwas gerichtet sind, so soll auch das Handeln ein intentionales Korrelat haben. Darüberhinaus gehört Handlung als universale Form menschlicher personaler und sozialer Praxis in besonderem Maße zu dem phänomenologischen Grundprogramm einer Analyse der „Lebenswelt“, mit dem das Ziel verfolgt wird, die vorwissenschaftliche, d.h. konkrete, anschaulich erfahrene und handelnd gestaltete Welt als das „Reich ursprünglicher Evidenzen“ zu erforschen. Nun hat Husserl in dem von ihm zu Lebzeiten veröffentlichten Werk vorrangig die intellektiven Bewusstseinsakte und weniger die das Gebiet der Handlung betreffenden volitiven und emotionalen Bewusstseinsakte untersucht. Jede Handlung baut sich aber notwendig auf dem Untergrund der Intentionalität von Gemüt und Wille auf, und ist daher nur durch eine Analyse dieser Aktschichten phänomenologisch voll befriedigend verständlich zu machen. In Manuskripten, die in den letzten Jahren aus Husserls Nachlass veröffentlicht wurden und deren weitere Veröffentlichung in Kürze ansteht, finden sich nun ausführliche Analysen zum Willensphänomen und überhaupt zur praktischen und zur sozial-stiftenden Sphäre des Subjekts. Diese Handlungsanalysen sind schon allein wegen ihres reichen deskriptiven Inhalts beachtenswert und werden von mir unter bestimmten Gesichtspunkten erörtert.
In meinem Vortrag geht es mir zunächst um die Erläuterung von Unterscheidungen wie zwischen Willkür- und Folgehandlungen, zwischen schlichten (z.B. Spontan- und Triebhandlungen) und nicht-schlichten Handlungen (z.B. Vorsatz- und Entschlusshandlungen), zwischen selbständigen Handlungen, die durch einen eigenen Willensentschluss (ein „fiat“) charakterisiert sind, und mechanisch ablaufenden Handlungen (wie z.B. das Klavierspiel), weiterhin werden sogenannte „achtsame“, unmittelbare und mittelbare Handlungen sowie einfache und zusammengesetzten Handlungen zur Unterscheidung gebracht. Ich werde auf die hier für Husserl wichtig gewordenen Einflüsse (Brentano, Stumpf, James und Pfänder) eingehen, aber dann vor allem aufzuweisen versuchen, dass Husserls Überlegungen zur Handlung sich in einem lebendigen geistigen Umfeld entwickelten, wie an den nicht nur an Husserl, sondern auch an Reinach anschließenden phänomenologischen Arbeiten insbesondere von Dieter Hildebrand (1916), Edith Stein (1922), Gerda Walther und Hans Reiner (1924) gezeigt werden kann. Der Handlungsbegriff gewinnt bei einigen dieser Phänomenologen - und zwar besonders im Anschluss an das von Reinach scharf gefasste Konzept des „sozialen Aktes“ - eine umfassende lebensweltlich-soziale, nämlich gemeinschaftsstiftende Bedeutung, auf die ich im Schlussteil meines Vortrags eingehen möchte.
Curriculum Vitae von Dr. Thomas Vongehr
- Bis 1996: Philosophie, Theaterwissenschaft, Kommunikationswissenschaft (München). Abschluss: Doktor
- 1996: Die Vorstellung des Sinns im kategorialen Vollzug des Aktes. Husserl und das Noema (München)
- Katholike Universiteit Leuven Belgien
- Phänomenologie
- 1997 - 2002: Wissenschaftlicher Angestellter (Edition) am Husserl-Archiv Freiburg
- 2002 - heute: Wissenschaftlicher Angestellter (Edition) am Husserl-Archiv Leuven (Belgien)
- Edmund Husserl „Wahrnehmung und Aufmerksamkeit“, Husserliana Band XXXVIII (zusammen mit Dr. Regula Giuliani im Jahr 2004 erschienen).