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Professor Dr. Dr. h.c. C.F. Gethmann

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FAQ

Sektionsredner

Dr. Michael Stöltzner (Wuppertal) - Curriculum Vitae
Ceteris paribus-Gesetze in der Wissensgesellschaft

Abstract

Einer unter Soziologen gängigen, aber nicht unumstrittenen These zufolge leben wir heute in einer Wissensgesellschaft, in der Wissen nicht mehr aus reinem Erkenntnisinteresse im Labor gewonnen und sodann in technische Anwendungen übersetzt wird, sondern überwiegend in gesellschaftlich relevanten Anwendungskontexten entsteht. Die Wissenschaft wird dadurch gezwungen, komplexe Probleme in knapper Zeit so zu lösen, dass das Ergebnis die wichtigsten epistemischen und sozioökonomischen Anforderungen befriedigt. Diese Entwicklung birgt aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive einerseits die Gefahr, dass die althergebrachten hohen Standards von Wissenschaftlichkeit erodieren. Andererseits erfordert sie, dass der Wissenschaftsfortschritt auf das Anwendungsproblem hin ausgerichtet und beschleunigt werden kann. Doch darf eine solche Veränderung des Forschungsmodus nicht irreversibel sein, da anwendungsdominierte Forschungsprogramme oft in grundlegenden Fragestellungen münden, insbesondere wenn sich das Anwendungsziel nicht erreichen lässt. Andererseits muss das Programm im Erfolgsfalle rasch in Technologien übersetzt werden können.

Ich möchte zeigen, dass die für die Wissenschaft in der Wissensgesellschaft typischen Gesetze ceteris paribus (cp-) Gesetze sind, weil gerade sie zu Übergängen zwischen den erwähnten Forschungsmodi fähig sind. Bei der Formulierung eines cp-Gesetzes geht man davon aus, dass (i) eine bestimmte Menge von cp-Bedingungen die in Frage stehende Kausalrelation im Normalfall nicht stören und dass (ii) diese Bedingungen durch andere Gesetze zumindest im Prinzip erklärt werden können. Während (ii) das cp-Gesetz vor der Tautologie sichert, steckt in (i) eine Normalitätsannahme. Deren Status verändert sich nun je nach dem Forschungsmodus. Im epistemischen Forschungsmodus wird man versuchen, die cp-Bedingungen durch gesicherte Kausalerkenntnisse zu erklären. Im anwendungsfokussierten Forschungsmodus geht man davon aus, dass die cp-Bedingungen für die intendierte Funktion ohne Belang sind, und wird das Verhalten des Systems nicht auf der ganzen Parameterskala untersuchen, sondern nur in bezug auf die erwartbaren Einflüsse. Für den Ingenieur gelten die cp-Bedingungen als gesichert.

Eine für das geschilderte Szenario geeignete Theorie von cp-Gesetzen wurde m.E. 1995 von Pietroski und Rey vorgeschlagen. Deren Hauptanliegen ist es, die Verwendung von cp-Gesetzen gerade in solchen Fällen zu begründen, in denen die cp-Bedingungen nicht wegerklärt werden können. Sie vergleichen cp-Bedingungen mit Schecks, die von der ‚Bank’ kausal unabhängiger Theorien ausgestellt sind und deren Vertrauen von der erwarteten Erklärungskraft dieser ‚Banken’ abhängig ist. Der zentrale Punkt ist, dass nicht alle vertrauenswürdigen Schecks sofort eingelöst werden, sondern weitergegeben werden können. Für die praktische Verwendung von cp-Gesetzen reicht also ein hinreichend großes epistemisches Vertrauen bzw. ein beherrschbares epistemisches Risiko aus. Dieses Vertrauen kann nun im Sinne einer Bayesianischen Analyse mit dem ökonomischen und sozialen Nutzen oder den Risiken gewichtet werden. Schon die Metapher der Bank macht klar, dass epistemisches Vertrauen nicht einer fixen Verlässlichkeitsschwelle entspricht, sondern es vom allgemeinen Zustand eines Forschungsgebietes abhängt – d.h. inwieweit man der Grundlagenforschung im Prinzip zutraut, die cp-Bedingungen im Bedarfsfalle tatsächlich wegzuerklären. Ein weiterer Gesichtspunkt ist der gesellschaftliche Lernfortschritt in bezug auf die normalen Bedingungen und relevanten Einflussfaktoren.

Innerhalb der philosophischen Literatur wurde die Theorie von Pietroski und Rey dahingehend kritisiert, dass sie cp-Gesetze nur sehr bedingt vor der Tautologie retten könne. Denn die Normalitätsannahme hat zunächst den Status einer Disposition und ist durch keine statistischen Gesetzmäßigkeiten gestützt. Doch dieser Einwand trifft nur im Gebiet epistemisch orientierter Forschung zu, insofern im Gebiet anwendungsorientierter Forschung eine im Sinne des Bayesianismus subjektiv formulierte epistemische Verlässlichkeit mit den empirisch festgestellten statistischen Anhängigkeiten nur vereinbar und durch diese korrigierbar sein muss. Eine weitere Kritik betraf die Prüfbarkeit von cp-Gesetzen. Wenn wir die statistischen Einflüsse der cp-Bedingungen kennen, wozu brauchen wir dann noch das cp-Gesetz in Ergänzung zu einem gewöhnlichen statistischen Gesetz? Hierauf ist zu erwidern, dass das cp-Gesetz im Anwendungskontext deshalb zu bevorzugen ist, weil es durch den Dispositionscharakter der Normalitätsannahme die intendierte Anwendung explizit macht und dadurch besser mit den sozioökonomischen Einflussfaktoren verbunden werden kann als eine komplexe statistische Abhängigkeit mehrerer Faktoren, die einzeln sozioökonomisch gewichtet werden müssten.

Die hier skizzierte Konzeption von cp-Bedingungen in der Wissensgesellschaft soll abschließend am Bespiel der Kernfusionsforschung illustriert werden.

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Curriculum Vitae von Dr. Michael Stöltzner

Studium:
  • Bis 1995: Philosophie, Physik, Russisch (Tübingen, Trieste, Wien). Abschluss: Mag. nat.
Promotion:
  • 2003: Vienna Indeterminism. Causality, Realism and the Two Strands of Boltzmann’s Legacy (1896-1936) (Bielefeld)
Derzeitige Universität oder Institution:
  • Wuppertal
Forschungsschwerpunkt(e):
  • Philosophie der Physik und angewandten Mathematik
  • Geschichte der Wissenschaftstheorie
  • Epistemologie der angewandten Wissenschaften
Berufliche Stationen:
  • 1999 - 2002: Forschungsassietent an der Universität Salzburg
  • 2001 - 2005: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld
  • seit 2005: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wuppertal
Wichtigste Publikation(en):
  • "The Least Action Principle as the Logical Empiricist’s Shibboleth”, Studies in History and Philosophy of Modern Physics 34 (2003), pp. 285-318.
  • "On Optimism and Opportunism in Applied Mathematics (Mark Wilson Meets John von Neumann on Mathematical Ontology)”, Erkenntnis 60 (2004), pp. 121-145.
  • Wiener Kreis (Textsammlung mit umfangreicher Einleitung, hsg. mit Thomas Uebel), Meiner, Hamburg, 2006
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