Sektionsredner
Meike Siegfried, M.A. (Bochum) - Curriculum Vitae
Erzählen – ein Ereignis zwischen Erleben und Entleben. Zu einem Hinweis Heideggers und seiner Aktualität
Abstract
Die Frage nach der Genese wissenschaftlicher Weltbetrachtung ist ein zentrales Thema der Philosophie Martin Heideggers in den 20er Jahren. Die sog. Frühen Freiburger Vorlesungen präsentieren die Herausbildung der theoretischen Einstellung durchgängig als Transformation bzw. Deformation des ursprünglichen Erlebens. Während dieses nicht auf ein ‚etwas’ im Sinne eines distanzierten Gegenstandes geht, sieht der theoretische Blick einzelne Dinge oder komplexe Objektzusammenhänge. Heidegger: „Lebenswelten werden durch die Wissenschaft in eine Tendenz der Entlebung genommen und damit das faktische Leben gerade der eigentlichen lebendigen Möglichkeit seines faktischen lebendigen Vollzugs beraubt“ (GA 58, 77f.).
In welchen konkreten Etappen aber vollzieht sich der ‚Verdinglichungsprozesses’? Heidegger selbst nennt als zentrales Problem die Bestimmung „des Grenzübergangs vom Umwelterleben zur ersten Objektivierung“ (GA 56/57, 91). In „Sein und Zeit“ präsentiert er – vornehmlich auf die Werkwelt bezogen – die Genese theoretischer Dingbetrachtung als Hervortreten des bloß Vorhandenen am vormals Zuhandenen. Während die entsprechenden ‚wissenschaftstheoretischen’ Überlegungen von §69b den Umschlag vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken als Modifikation der Sicht aufweisen, gibt die sehr viel frühere Vorlesung „Grundprobleme der Phänomenologie“ (WS 1919/20) den Hinweis auf eine sprachbezogene Transformation des faktischen Lebens in einer Welt: das Erzählen.
Während das Selbst im Erleben gleichsam von Situation zu Situation „schwimmt“, findet im Erzählen eine erste ‚Gestaltgebung’ statt – die Herauslösung des einzelnen Erlebnisses, ein Hervorheben bestimmter Aspekte, eine zeitliche Datierung. Auf der anderen Seite betont Heidegger gerade, dass die erzählende Kenntnisnahme das ursprüngliche Erleben in seiner lebendigen Faktizität noch bewahre. „Sein und Zeit“ legt nahe, die Entwicklung wissenschaftlicher Weltzueignung über das Auftreten von Störungen beim besorgenden Umgang mit Zeug zu erklären (so C. F. Gethmann in „Der existenziale Begriff der Wissenschaft“, in: Ders., Dasein: Erkennen und Handeln, Berlin/New York 1993, 169-206); der knappe Hinweis auf die ‚Zwischenstellung’ der Erzählung von 1919/20 eröffnet jedoch die Möglichkeit, eine alternative Erklärung von Wissenschaftsgenese anzubieten, die sich nicht auf ein Rechnen in Zweck-Mittel-Relationen reduzieren lässt.
Im Vordergrund stehen dann folgende Überlegungen: Was motiviert das Erzählen? Warum wird diese Form der Kenntnisnahme schließlich ausgebildet zu einem theoretischen Zugang? Heidegger beantwortet diese Fragen hier nicht explizit (zudem erscheint die ‚Verdinglichung’ durch die Einzelwissenschaften Anfang der 20er oft als bloße Zerstückelung des Erlebens, als ‚Abfall’). Ein Vorschlag: Erzählt wird, was bewegt oder begeistert, überrascht oder erschüttert. Erzählt wird zudem Anderen, oft auf deren Nachfrage. Möglicherweise ist das Staunen (nicht die Neugier) über dieses oder jenes Erlebte – das sich im Erzählen herausbildet oder bekundet – der Ursprung eines theoretischen Interesses an den ‚Dingen’.
Dass das Erzählen jedoch nicht einen bloßen Durchgang hin zur wissenschaftlichen Thematisierung darstellen muss, vermag die vermehrte Hinwendung zum nicht-literarischen Erzählen in den Humanwissenschaften (Oral History in der Geschichtswissenschaft, qualitative Methoden in Soziologie und Psychologie) während der letzten Jahrzehnte zu bezeugen. Mit Heidegger ließe sich konstatieren, dass dieser Rückgang der Wissenschaften auf eine frühere Stufe ihrer Genese eine dreifache Öffnung für ‚ursprünglichere’ Phänomene mit sich bringt: Erstens kommt eine andere Form der Gewissheit ins Spiel (Beweis vs. Über- und Bezeugung); zweitens eröffnet sich eine andere Zeitlichkeit (messbare Zeit – vs. Zeitlichkeit des Erinnerns, Erlebens, Erwartens); drittens gelangen sprachliche Artikulationen in den Blick, welche vor jeder theoretischen Aussage über bloß Vorhandenes liegen. Vor allem aber stellt die anhaltende Debatte um die spezifische Narrativität der Wissenschaften selbst – die radikalere Form eines „narrativist turn“ besonders in der Historiographie – die These zur Diskussion, dass (bestimmte) Wissenschaften gerade keine reine, endgültige Überwindung eines ‚erzählenden’ Zugangs zur Welt und den Geschehnissen in ihr darstellen.
Abschließend ließe sich fragen, was eine solche Wiederannäherung der einzelnen Wissenschaften an die Lebenswelt für die Positionierung der Philosophie bedeutet. Folgende – grob skizzierte – Alternativen bieten sich an: 1) Philosophie als Rückgang auf eine Sphäre vor jeder Erzählung – zu Beginn der 20er sucht Heidegger nach einer Urwissenschaft und die Philosophie von „Sein und Zeit“ präsentiert sich dezidiert als Ende aller (ontischen) Erzählungen; 2) Philosophie als Dialogpartner anderer Wissenschaften, der als solcher keine übergreifende Metaerzählung mehr anbietet.
Curriculum Vitae von Meike Siegfried, M.A.
- Bis 2005: Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft (Ruhr-Universität Bochum). Abschluss: Magister
- 2008: „Hermeneutische und dialogische Sprachkonzeptionen im Gesamtwerk von Martin Heidegger und Martin Buber“ (Ruhr-Universität Bochum)
- Ruhr-Universität Bochum
- Phänomenologie
- Dialogphilosophie
- Hermeneutik
- 2005 - 2007: Wissenschaftliche Hilfskraft
- 2007 - 2008: Wissenschaftliche Mitarbeiterin
- „Verantwortung als dialogisches Geschehen. Bubers Absage an eine ‚Metapher der Moral’“, in: Eveline Goodman-Thau (Hg.), Im Zwiegespräch/In Dialogue. Martin Buber Jahrbuch/Martin Buber Yearbook, Bd.1, Münster u.a. (für Frühjahr 2008 in Vorbereitung).
- Rezensionen in „Theater über Tage. Jahrbuch für das Theater im Ruhrgebiet“, hrsg. von Jürgen Grimm u.a., Münster (Jahrgänge 2003, 2004 und 2005).