Sektionsredner
Dr. Marc Rölli (Darmstadt) - Curriculum Vitae
Philosophische Anthropologie – eine Grundlegung der Bioethik?
Abstract
„'Philosophische Anthropologie' - eine Grundlegung der Bioethik?“
Anthropologie verstanden als philosophische Disziplin – das war und ist in der Philosophiegeschichte keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Zwar haben sich auch Kant und Hegel mit ihr abgegeben, aber doch in eher abgelegenen Systemgebieten. Eine wichtige Erneuerung erfährt sie im deutschsprachigen Raum in den 1920er Jahren, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, auf der Basis einer empirienahen Theorie des Lebens Grundphilosophie zu sein. Es ist diese philosophische Anthropologie – mit ihren kanonischen Texten von Scheler, Gehlen und v. a. Plessner – die heute zum ersten Bezugspunkt einer v. a. im Kontext der Bioethik neu erwachten Frage nach dem Menschen avanciert. Mit ihrem empirienahen philosophischen Ansatz verbindet sich eine lebensweltliche Kompetenz, mit den neuesten naturwissenschaftlichen Entwicklungen (heute z. B. in der Hirnforschung, in den Kognitionswissenschaften, in der Evolutionsbiologie) umzugehen. Das bedeutet erstens, dass sich diese philosophische Disziplin durch eine besondere Nähe zu den Naturwissenschaften auszeichnet, die sich mit dem Menschen befassen. Zweitens wird aber an einer philosophischen Kompetenz festgehalten, nämlich beurteilen zu können, an welchem Punkt technologische Entwicklungen das Wesen des Menschen zu verändern drohen. So schlüpft die philosophische Anthropologie in eine eigentümliche Rolle, nämlich am Leitfaden eines Begriffs vom Menschen Kriterien bereitstellen zu können, die in der angewandten Ethik, etwa in der Bioethik, von höchster Relevanz sind. Der Mensch wird zu einer conditio sine qua non der praktischen Vernunft selbst erklärt.
Neben dem amerikanischen Pragmatismus gilt die philosophische Anthropologie (und zwar seit Kant) als die Lebensweltphilosophie überhaupt (vgl. Marquard). Sie unterläuft die naturwissenschaftliche Praxis, indem sie sich aus einer „lebensweltlichen“, nämlich Geist und Natur – qua „Doppelaspektivität“ (Plessner) – umfassenden Perspektive mit ihr erneut ins Verhältnis setzt. Sie ist antinaturalistisch im Rückgang auf eine (lebendige, menschliche) Natur, die sich auf dem Umweg über eine „philosophische Biologie“ (Plessner) erschließen lässt. Sie operiert mit phänomenologischen Mitteln, wenngleich sie diese ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge ausweitet.
In meinem Beitrag möchte ich die These vertreten, dass sowohl die lebensweltliche Fundierung der philosophischen Anthropologie als auch die Absicht, die Bioethik anthropologisch begründen zu wollen, problematisch sind. Es sind gerade die auf eine Theorie des Lebens abzielenden Tendenzen der philosophischen Anthropologie, die sie in einem lebenswissenschaftlichen Feld zu profilieren scheinen. Aber es sind genau diese Tendenzen, die ihren lebensweltlichen Ansatz beschränken. Hinzu kommt, dass ihr fundamentalphilosophischer Charakter (einer Ontologie des Lebens) im Prinzip den Grundlegungsanspruch bejaht, der von Seiten der Bioethik artikuliert wird. Mit diesem Anspruch aber wird nur eine Perspektive fixiert, die in der Kritik des anthropologischen Lebensweltgedankens bereits zum Ausdruck gebracht wurde.
Curriculum Vitae von Dr. Marc Rölli
- Bis 1997: Philosophie, Indische Philologie, Religionswissenschaft (Marburg, Berlin). Abschluss: MA
- 2002: Empirismus und Transzendentalphilosophie (Bochum)
- Kritik der anthropologischen Vernunft (Darmstadt)
- TU Darmstadt
- Geschichte der philosophischen Anthropologie
- Philosophie des Pragmatismus
- Französische Philosophie der Gegenwart
- 2002 - 2008: Wissenschaftlicher Mitarbeiter
- Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus. Wien 2003
- Ereignis auf Französisch. München 2004
- Heinrich Heine und die Philosophie. Wien 2007