Sektionsredner
Professor Dr. Anne Reichold (Flensburg) - Curriculum Vitae
Praktische Selbstbeschreibungen des Menschen in der Neurophilosophie
Abstract
Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Erklärungen des Selbst (Newen/Vogeley 2000; Metzinger 2003) und der Willensfreiheit (Libet 1999; Walter 1997; Voland 2007) untersuchen nicht nur einen Teilbereich der physikalisch-biologischen Welt, sondern sie betreffen auch das praktische Selbstverständnis des Menschen in dieser Welt. Die praktische Relevanz zeigt sich unter anderem daran, dass neurophilosophische Theorien selbst normative Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen ziehen. Reduktive Positionen etwa destruieren die „Intuitionen“ der Freiheit und des Ich als Täuschungen und fordern eine Aufgabe und Verbesserung nicht nur unserer theoretisch-beschreibenden Sicht auf den Menschen, sondern auch unseres phänomenalen, praktischen und normativen Selbstbildes (Singer 2004, 254; Metzinger 2003, 629). Der in diesen Konzeptionen vollzogene Übergang von der wissenschaftlichen Beschreibungs- und Erklärungsebene zur lebensweltlichen Orientierungsebene ist schon durch den Erklärungsgegenstand dieser Untersuchungen vorgegeben: explanandum sind Phänomene, die zumindest auch im Bereich der lebensweltlichen Orientierung und somit der Praxis angesiedelt sind: Freiheit und Ich als handelndes Subjekt. Die Interpretation neurowissenschaftlicher Ergebnisse im Lichte der orientierenden Praxis ist also kein plötzliches Eintreten in den Bereich subjektiver Selbstbilder, sondern die Fortsetzung einer Verbindung dieser beiden Ebenen, die schon in der Fragestellung angelegt ist.
Die Ausgangsfrage meines Vortrags lautet: was passiert im Prozess der Naturalisierung mit den normativ-praktischen Dimensionen dieser Begriffe? Die Frage soll in zwei Hinsichten thematisiert werden:
1) Verändert sich die naturalistische Ontologie und die naturalisierende Wissenschaft durch die Thematisierung praktischer Gegenstände, die aus dem Bereich phänomenaler Selbst- und Weltorientierung entnommen sind und zum Gegenstand theoretisch-wissenschaftlicher Erklärung werden?
2) Verändert die Naturalisierung praktischer Begriffe das praktische Selbstverständnis des Menschen? Welche Zusammenhänge bestehen hier zwischen wissenschaftlicher Erklärung und praktisch-ethischer Selbstbeschreibung des Menschen?
Im Hinblick auf die erste Frage argumentiere ich, dass die Naturalisierung praktischer Begriffe des handelnden und normativen Selbstverständnisses des Menschen zu Veränderungen des naturalistischen Körperbegriffs und wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden führen. Durch die Interpretation geistiger Phänomene als körperlicher Phänomene verliert der Begriff des Körpers seine klassische Opposition zum Geist und rückt in die Nähe eines phänomenologischen Leibbegriffs (Merleau-Ponty 1966; Krüger 2004; Reichold 2004). Ebenso prägt die Verwendung subjektiver Erfahrungsberichte, intentionaler und handlungstheoretischer Begriffe die Methoden der Neurowissenschaften (Blakemore et. al. 2004, 216-222).
Im Hinblick auf die zweite Frage argumentiere ich, dass naturalistische Forschungsergebnisse nur durch Anschluss und Einbindung in narrative Strukturen des praktischen Selbstverständnisses des Menschen handlungsleitend und normativ relevant werden (Ricoeur 1996). Das, was unser Selbstbild betrifft und eventuell erschüttert, ist nicht in physikalischen Formeln oder mathematischen Gleichungen formuliert, sondern in einer an kulturelle Selbstbeschreibungen anschließbaren Sprache. Wissenschaftliche Fakten gewinnen normative Kraft im Modus von Erzählungen, in denen die Bedeutung der Fakten für die Lebenswelt, das Selbstbild, das Bild Anderer gewertet werden.
Literatur:
Blakemore, Sarah-Jayne/Winstin, Joel/Frith, Uta: Social cognitive neuroscience: where are we heading? In: Trends in Cognitive Sciences, Vol.8 No.5, Mai 2004, 216-222.
Krüger, Hans-Peter: Das Hirn im Kontext exzentrischer Positionierungen. Zur philosophischen Herausforderung der neurobiologischen Hirnforschung. In: DZPhil, Berlin 52 (2004) 2, 257-293.
Libet, Benjamin: Do we have Free Will? In: Journal of Consciousness Studies, 6, No. 8-9, 1999, 47-57.
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter 1966
Metzinger, Thomas: Being No One. Self Model Theory of Subjectivity Cambridge/London: MIT Press 2003
Newen, Albert/Vogeley, Kai (Hg.): Selbst und Gehirn. Menschliches Selbstbewußtsein und seine neurobiologischen Grundlagen. Paderborn: mentis 2000
Reichold, Anne: Die vergessene Leiblichkeit. Zur Rolle des Körpers in ontologischen und ethischen Persontheorien. Paderborn: mentis 2004
Ricoeur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München: Fink 1996
Singer, Wolf: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. DZPhil 52 (2004) 2
Voland, Eckart: Wir erkennen uns als den anderen ähnlich. Die biologische Evolution der Freiheitsintuition. In: DZPhil, Berlin 55 (2007) 739-749.
Walter, Henrik: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Von libertarischen Illusionen zum Konzept der natürlichen Autonomie. Paderborn: mentis 1997
Curriculum Vitae von Professor Dr. Anne Reichold
- Philosophie, Germanistik, Slavistik, Internationale Politik (Bonn, Hamburg, Köln)
- Die vergessene Leiblichkeit. Zur Rolle des Körpers in ontologischen und ethischen Persontheorien
- Flensburg
- Praktische Philosophie
- Körper und Normativität
- Neurophilosophie
- 2003 - heute: Juniorprofessorin für Philosophie, Universität Flensburg
- Die vergessene Leiblichkeit. Zur Rolle des Körpers in ontologischen und ethischen Persontheorien. Paderborn: mentis 2004
- Auflösungen des Ich in Neurophilosopie und Mystik. In: Christoph Holzhey (Hg.): Biomystik. München: Fink 2007,104-133
- Reichold, Anne: Embodiment and the Ethical Concept of a Person. In: Fielding, Helen / Hiltmann, Gabrielle / Olkowski, Dorothea / Reichold, Anne: The Other. Feminist Reflections in Ethics. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan 2007, 169-185