Sektionsredner
Priv.-Doz. Dr. Miriam Ommeln (Karlsruhe)
Wikipedia und Schwarmintelligenz: ein intelligentes Prinzip?
Abstract
Mit der Vorreiterrolle des Technikprodukts Linux, einem freien Multiplattform-Mehrbenutzer-Betriebssystem, ging eine kulturelle Bewegung einher, die sich das Prinzip der informationellen Freiheit konsequent auf ihre Fahne schrieb und sie durch ihr Open-Source-Prinzip verbreitete.
Dieser Denkansatz hat sich innerhalb kürzester Zeit (ca. 10 Jahren) zu einer machtvollen kulturellen Bewegung entwickelt, die nicht nur als ein immenser Innovationsmotor der IT -Forschungsentwicklung fungiert, sondern sich als wirtschaftlicher Machtfaktor, – als einzige echte Konkurrentin zu Microsoft Inc. –, etablieren konnte.
Die Open-Source Produkte haben darüber hinaus gesellschaftspolitische Relevanz, da sie aus Gründen der Staatssicherheit und des Datenschutzes auf den regierungseigenen Computern laufen. Weitere wichtige gesellschaftliche Veränderungen und Debatten, die u.a. auch durch die Open-Source Bewegung ausgelöst wurden, betreffen die Copyright-Rechte bzw. die Copyleft- Lizenzen (z.B. GPL), die nicht nur tief in das Autorentum oder den Journalismus bis über das Patentwesen hineinwirken, sondern sie reichen bis hin zur Notwendigkeit der EU, die fehlende Hoheitsgewalt des Staates im immateriellen Internet durch eine modifizierte Gesetzgebung und eine informationstechnische Verfassung neu zu regeln. Man kann die Schwierigkeiten und Implikationen einer neuen, modernen Staatslegitimation ohne weiteres erahnen und dabei die zukünftigen Entwicklungschancen und -risiken der Demokratie kaum ab- und überschätzen.
Die Technikfolgen dieser technischen Entwicklung sind eindrucksvoll und zeigen die enge Verzahnung von Technik und Kultur. Doch sind damit die Betrachtungen über die Technikfolgen von Open Source schon abgeschlossen? Nein.
Im Zuge der allgemeinen Aufweichung des Gedankens vom Schutz der Privatsphäre durch Technik (RFID, Smart Environment, Neuro-Chip-Implantate etc.) und der Gesetzgebung, sowie des Copyrightwesens haben einige Staaten und die Wirtschaft ein kostengünstiges Instrument zum Wissensmanagement und zur allgemeinen Daten- bzw. Informationssammlung entdeckt, dass unter Verweis auf den wirtschaftlichen Erfolg und mehr noch auf die riesige Resonanz der Open Source-Bewegung in der Bevölkerung bzw. der User, funktionalisiert werden kann.
Dieses Bestreben kulminiert in dem Schlagwort „User Generated Content“.
Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia ist die prominenteste Vertreterin dieser technischen Realisierung. Google ist bereits ebenfalls in den global-konkurrierenden Wissenswettlauf eingestiegen und hat jüngst seine neue Plattform verkündet, Googlepedia, eine eigene Internet-Enzyklopädie.
Die generellen Auseinandersetzungen um „User Generated Content“ und die konkrete Aufspaltung von Wikipedia, bzw. die Differenzen zwischen den beiden Gründern Jimmy Wales und Larry Sanger, führen zu der kriminalistischen Frage des „Cui Bono?“ – Wem nützt Wikipedia?
Welche zwei Seiten hat Wiki-Wissen? Besitzt Wiki-Wissen eine subtile Überwachungsfunktion und übt damit eine soziale Kontrolle aus?
Wiki-Wissen ist mehr als ein reines Funktionsprinzip, – es ist eine Methode. Jede Art von Wissensmanagement impliziert eine soziale Infrastruktur und einen Steuerungsprozess. Die Produktion von Wissen und die Wissensansammlung selbst folgen bestimmten Intentionen und haben somit Methode.
Welche regulativen und (un)erwünschten Folgen zieht die Wikipedia-Methode nach sich?
Führt die gängige Sprechweise von kollektiver Intelligenz, untermauert mit Beispielen aus der Statistik, tatsächlich zu einer schlüssigen Argumentationslinie? Ist die Sichtweise des Computerpioniers Jaron Lanier berechtigt, der von einem „digitale Kollektivismus“ oder auch einem „digitalen Maoismus“ spricht?
Warum hat trotz einer vermeintlichen Open-Source-Vorgehensweise Wikipedia nicht viel mit Linux gemeinsam?
Der zu klärende Fragenkomplex des „User Generated Content“ bewegt sich im Themenumfeld von Staatsaufbau, Wissen als Machtmittel und der allgemeinen Frage nach der Vox populi, in deren Namen nicht nur Recht gesprochen wird, sondern die zur Rechtfertigung der Volksherrschaft und der öffentlichen Meinung herangezogen wird. Das Argument der Schwarmintelligenz (z.B. J. Surowiecki) spielt in diesem soziotechnischen Kontext die Hauptrolle.
Die Aufgabenregulierung des Staates zwischen technikfreisetzendem und Technikfolgen begrenzendem Recht sowie der neuen Funktion der Technikgestaltung gerät in einen konfligierenden Wertekonflikt, denn „neben den Rechten auf Information stehen die Rechte an Information.“ (A. Roßnagel, H. Garstka)
Der Spagat zwischen Vermassung, Nivellierungstendenzen, der Gefahr des Social Engineering und der hären Absicht einer echten und pluralistischen Wissensgenerierung, die zu einer kreativen und innovativer Spitzenforschung beitragen helfen soll, lässt sich exemplarisch auf die verkürzte Frageformel bringen: Die Wikipedia-Methode: Masse vor Klasse?