Sektionsredner
Professor Dr. Mathias Obert (Taipei, RC) - Curriculum Vitae
Sind chinesische Berg-Wasser-Bilder immersive Bilder?
Abstract
Die Ausgangsfrage, in der Ästhetik und Ethik eng verknüpft sind, lautet: Wie bietet sich dem Menschen in der Anschauung von Bildern der Kunst ein Weltzugang von existentieller Bedeutsamkeit? Um dieses Problem aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln schärfer zu fassen, soll im Rahmen einer transkulturell angelegten Reflexion vorgeführt werden, worin der Unterschied der chinesischen "Tuschelandschaft", des Berg-Wasser-Bildes, zu "immersiven Bildern" besteht. Diese Untersuchung weist über die europäischen und systematischen Grenzen der Bildwissenschaft hinaus, um die Aktualität einer außereuropäischen Lebenswelt für Wissenschaft und Philosophie heute aufzuzeigen. Indem für die Einführung eines transformationsästhetischen Ansatzes in die Ästhetik plädiert wird, soll in der Nachfolge Adornos und Heideggers das ästhetische Verhalten des Menschen als eine besondere "Praxis" von ethischer Relevanz verstanden werden. Wenn dazu jedoch ein "Umweg über China" eingeschlagen wird, steht zugleich eine zeitgemäße Methode transkulturellen Philosophierens auf dem Spiel.
In der vormodernen chinesischen Kunstphilosophie bleibt die für die abendländische Wissenschaft so paradigmatische Sehwahrnehmung ganzheitlichen Wahrnehmungsformen des Sinnenwesens Mensch eingeordnet. Reflektiert wird vor allem auf die Leiblichkeit. Das "avoir à distance", von dem Merleau-Ponty im Hinblick auf den Gesichtssinn spricht, tritt hinter die Leitidee eines leibhaft responsiven Eingehens des Menschen in seine Umwelt zurück. Auch in der Malerei bestimmen Vollzugsweisen leiblicher Bewegung, stimmungsmäßige Befindlichkeiten und Momente des musikalischen Hörens das sinnliche Weltverhältnis.
Dieser Blickwinkel macht aus der Sinneswahrnehmung ein Moment in der ethischen Verfassung des Menschen. Die in künstlerisch-ästhetischer Einstellung vollzogene Wahrnehmung dient da einer lebenspraktischen Transformation des Seins-zur-Welt des Wahrnehmenden. Eine performative Wirksamkeit der Wahrnehmungsakte wird vor die kommunikative Bedeutsamkeit des Wahrgenommenen gestellt. Gemalte Bilder stellen im Zuge einer bestimmten ästhetischen Praxis einen faktischen Ort zur Verfügung, an dem der Mensch seinen Zugang zur Welt je neu verwirklichen kann. So schreibt sich die Ästhetik in die Ethik des guten Lebens ein.
Die sichtbare Gestalt im Bild gilt im vormodernen China nicht primär als Abbild, Symbol oder Metapher; sie "vergegenwärtigt" überhaupt nicht. Sie bildet viel eher die Verkörperung eines transformativen Ereignisses, das sich im Durchgang durch die Anschauung je neu entfaltet. Diese Leistung des Bildes betrifft aber das lebensweltliche Dasein des Anschauenden, nicht das Sein des Angeschauten. Noch das Thema von Gestalt und Leere wird daher nicht in bezug auf die Evokation einer bestimmten Gegenständlichkeit ausgelegt. Wirksam wird im Bild ein eigentümlicher Modus der Gestaltlosigkeit. Es handelt sich um eine "hintergründige Nähe", die "Fadheit" einer sich entziehenden Gestalt, wovon eine den Betrachter in der Anschauung ergreifende und verwandelnde Kraft ausgeht. Diese hintergründige Nähe muß als faktischer "Aufgang von Welt" verstanden werden.
Das Berg-Wasser-Bild eröffnet unmittelbar orthaft Welt, statt sie erscheinen zu lassen. An der Stelle einer simultanen Gestaltanschauung wie eines sukzessiven "Entzifferns" von Bildzeichen und der hermeneutischen Aufdeckung einer "Welt im Bild" steht das Ereignis eines Sich-Einlassens aufs Bild in einem responsiven Angesprochensein durch dessen Umweltcharaktere und eine dynamisch wirksame Verfassung der Bildgestaltung. Der Betrachter kann leibhaftig in die "Welt als Bild" eingehen.
Die bildphilosophische Alternative zwischen Präsenz und Repräsentation, worin auch noch die Rede von "immersiven Bildern" fußt, ist insgesamt unangemessen, wo Bilder als "Wirkbilder" angelegt sind, als Wirkräume, in denen sich unser menschliches Sein-zur-Welt entfaltet. Um zu erkennen, wie wir leibhaftig in Bildern leben können, ist nach dem Vorbild einer im vormodernen chinesischen Nachdenken über Malerei in unsystematischer Form angelegten Phänomenologie des ästhetischen Verhaltens zu fragen, wie die Bildanschauung den Schauenden tatsächlich in seine Welt hineinführt. So ist zu klären, wie dem künstlerischen und ästhetischen Verhalten die pragmatische Dimension von Gelingen und Scheitern innewohnt, insofern auf diesem Gebiet die Einübung in ein Weltverhältnis von ethisch-existentieller Bedeutsamkeit vollzogen wird. Damit geht zuletzt die Frage einher, wie eine ästhetische Praxis dieser Art als ein ausgezeichnetes Muster menschlicher Lebenspraxis gelten kann. In diesem zentralen Problem gegenwärtigen Philosophierens wird sich aber die ganze Fruchtbarkeit dieser nicht allein die Ästhetik angehenden transkulturellen Überlegungen erweisen.
Curriculum Vitae von Professor Dr. Mathias Obert
- Bis 1993: Philosophie, Sinologie, Kunstgeschichte (München, Tours). Abschluss: M. A.
- 1997: Sinndeutung und Zeitlichkeit. Untersuchungen zur Hermeneutik des Huayan-Buddhismus (München)
- 2006: Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei (HU Berlin)
- Soochow University, Taipei
- Transkulturelle Philosophie
- Ästhetik
- Phänomenologie des Leibes
- 2000 - 2001: wiss. Assist. (München)
- 2002 - 2006: wiss. Assist. (Berlin)
- 2007 - jetzt: Professor
- Sinndeutung und Zeitlichkeit. Untersuchungen zur Hermeneutik des Huayan-Buddhismus
- Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei