Sektionsredner
Priv.-Doz. Dr. Heinz-Ulrich Nennen (Karlsruhe) - Curriculum Vitae
Psyche und Lebenswelt
Abstract
Im Nexus von Wissenschaft und Lebenswelt, wann und wo auch immer technische und wissenschaftliche Revolutionen vor sich gehen, verbunden mit ihren oft einschneidenden Veränderungen der Lebenswelt, kommt es ganz entscheidend auf etwas an, das sich später kaum mit den Mitteln der Archäologie heben, allenfalls noch indirekt erschließen läßt, „Psyche“.
Der Mythos vom Turm zu Babel, die Unmöglichkeit, aufgrund von ‚Sprachverwirrung‘ das gemeinsame Projekt des Turmbaus weiter zu verfolgen, demonstriert das Menetekel einer jeden Zivilisation. Anders als der Mythos es darstellt, war dieses Turmbauprojekt realhistorisch gar kein Desaster, aber dennoch gilt, daß Urbanisierung erhebliche Risiken in sich birgt, zumal dann, wenn die Psyche als individuelle und autonome Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle noch gar nicht sicher genug ist. - Was später als selbstverständlich erscheint, daß ein jeder über eigene Psyche, Individualität, Verantwortungsbewußtsein und über persönliches Gewissen verfügt, mußte in dieser Frühphase erst geschaffen werden.
Die größten Herausforderungen gehen seit je mit jeder neuen Urbanisierung einher, in den frühesten Stadt-Staaten ebenso wie in den Cyber-Welten unserer Tage. Die Innenwelten neuer Städte seinerzeit, ebenso wie die sozialen Netzwerke, virtuellen Welten und Chat-Kulturen unserer Tage, provozieren gänzlich neue Fragen der Orientierung und der Selbsterfahrung, solche, auf die überkommenes Orientierungswissen in der Regel keinerlei Antwort mehr bereit halten kann.
Ursprünglich dürfte die Psychogenese des Individualbewußtseins ausgelöst worden sein im Zuge der aufkommenden Metallzeiten vor etwa 8000 Jahren, wenn mit dem Metall erstmals zuvor ungeahnter Reichtum in die Welt kommt, wenn dieser in den Städten dann öffentlich wird. Urplötzlich treffen viele Kulturen aufeinander, was andernorts ein Unding wäre, sich zu begegnen, ohne etwas miteinander zu tun zu haben, geschieht in den Städten, sie sind die Laboratorien der Psychogenese. Die Stadt macht alle Menschen gleich, einige aber auch gleicher.
In einem durchaus schwierigen Anpassungsprozeß, in dem es offenbar immer wieder empfindliche Rückschläge gab, wird dann erstmals die neue revolutionäre Technik der Metallverarbeitung mit allen Folgen und Nebenfolgen eingeführt. Zugleich zeigt sich, daß Technik allein offenbar ganz und gar nicht genügt, denn selbst wenn das Wissen um Metallurgie archäologisch längst nachweisbar und bereits verfügbar gewesen sein muß, so kommt es erst sehr viel später zu ersten stabilen Prozessen der Zivilisation, vielfach brechen die Entwicklungen immer wieder in sich zusammen. Offenbar sind die soziokulturellen, die politisch-ökonomischen und die individual-psychologischen Bedingungen derart anspruchsvoll, so daß sie sich nur zeitweise aufrecht erhalten lassen, bis diese frühesten Städte, Staaten und Kulturen immer wieder in sich zusammenbrechen.
Es darf angenommen werden, daß unsere ‚Psyche‘, unser ‚Wesen‘, unsere ‚Natur‘ keineswegs über alle Zeiten hinweg konstant, sondern immer wieder immensen Wandlungsprozessen ausgesetzt bleibt, was oftmals keineswegs unproblematisch vonstatten geht. Wenn dann mit der neolithischen Revolution erstmals dieser Nexus zwischen Lebenswelt und Wissenschaft zu kaum vorstellbaren Verwerfungen führt, wenn nach einer überlangen Menschheitsgeschichte vom Nomadendasein zur Seßhaftigkeit übergegangen wird, wenn mit den Städten ganze Landschaften erstmals naturenthoben werden, dann dürfte eines daran ganz besonders von Interesse sein, mit welchen Anforderungen ein solcher Wandel im Orientierungsvermögen derer einhergeht, die sich einfinden in diesen neuen urbanen Lebenswelten.
Ähnliches spielt sich derzeit vor unseren Augen ab. Im Zuge der Digitalisierung von Kommunikation und Interaktion in den Cyberwelten digitaler „Städte“ zeigen sich erstaunliche neue Möglichkeiten der Selbsterfahrung, der Virtualisierung, der Interaktion und der Kommunikation. Durch Digitalisierung wird das Internet zur virtuellen Lebenswelt eines nunmehr noch umfassenderen Urbanisierungsprozesses. Ein neuer Schub der Psychogenese: Die Psyche im Zeitalter ihrer Simulierbarkeit, offenbar mit dem Ziel größerer individueller Souveränität.
Psychogenese beruht auf Individuierung und diese wird herausgefordert durch jede neue Urbanisation. Wo das der Fall ist, dort geschieht etwas äußerst Bemerkenswertes, es kommt zur Internalisierung vormals externer Orientierungsweisen, der Blick, das Wertempfinden und die Urteilsfähigkeit werden erfahrener und darauf mehr und mehr autonom. Die Notwendigkeit für dieses Manöver, entscheidende vormalige Instanzen der Rechtfertigung von der Außenwelt in die Innenwelt zu verlegen, ist offenbar die mitbedingte Nebenfolge jeder Zivilisation, wobei sich ein interessanter Parallelismus zwischen Psychogenese und Theogonie beobachten läßt.
Curriculum Vitae von Priv.-Doz. Dr. Heinz-Ulrich Nennen
- Bis 1989: Philosophie, Soziologie, Erziehungswissenschaften (Münster). Abschluss: Dr. phil
- 1989: "Ökologie im Diskurs. Studien zu Grundfragen der Anthropologie, Ökologie und zur Ethik der Wissenschaften." (Münster)
- 2003: "Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse." (Cottbus)
- Karlsruhe
- Diskursanalsyse
- Phänomenologie
- Technikfolgen
- 1993 - 2003: Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich "Diskurs" an der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Stuttgart
- 2001 - 2003: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Cottbus
- 2004ff: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe (TH)
- Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronik einer Inszenierung. Über Metaphernfolgenabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse. [Königshausen & Neumann] Würzburg 2003.
- Ökologie im Diskurs. Studien zu Grundfragen der Anthropologie, Ökologie und zur Ethik der Wissenschaften. [Westdeutscher Verlag] Opladen 1991.
- Heinz–Ulrich Nennen (Hrsg.): Diskurs. Begriff und Realisierung. [Königshausen & Neumann] Würzburg 2000.