Sektionsredner
Dr. Nikolay Milkov (Paderborn) - Curriculum Vitae
Stücke einer reistischen Gesellschafts- Geschichtstheorie
Abstract
1. Die reistische Herangehensweise.
In seinem bahnbrechenden Buch, Construction of Social Reality (1995), vertritt John Searle die These, dass die Bausteine der sozialen Wirklichkeit die Institutionen sind. Sie machen die sozialen Tatsachen wie Bürgerschaft, Geld, Regierung, Eigentum, Ehen, Sportereignisse usw. möglich.
Unsere Aufgabe wird sein, ein Argument gegen Searle’sche Thesen festzulegen. Das Hauptproblem in Searles These ist ihr radikaler Idealismus. Die Institutionen sind in Wirklichkeit nicht die Bausteine der Gesellschaft, sondern ihre „Pflaster“. Sie sind ein Überbau des materiellen Lebens und letzteres ist unabhängig von menschlichem Willen und Verträgen: das Wesen und der Charakter der Institutionen wird von der Wirtschaft bestimmt.
Stattdessen bieten wir eine reistische soziale Ontologie auf, die behauptet, dass die soziale Welt aus Gegenständen und Praktiken besteht, nicht aus Beziehungen oder Institutionen. Des Weiteren betrachten wir das soziale Leben als bestehend aus soliden Substanzen oder Gegenständen. (vgl. § 4)
2. Lebensweisen.
Menschen entwickeln und übernehmen Instrumente, Gegenstände und Praktiken, mit deren Hilfe sie mit den Aufgaben des Lebens erfolgreich zurechtkommen. Sie sind stolz auf sie und, noch wichtiger, sie leben mit ihnen in Frieden. (Wittgenstein) Sie stellen die Lebensweise der Menschen in dieser spezifischen Periode der Zeit dar. Die Gegenstände und Praktiken haben einen bestimmten Stil. Wenn wir uns mit ihnen abgeben, sehen wir sie sub specie aeternitatis. (Idem)
Weiterhin verbinden sie die sozialen Instrumente, Gegenstände usw. mit Metaphysiken. Tatsächlich denken wir nicht nur an sie — wir handeln mit ihnen und kümmern uns so um sie; wir verkaufen sie, kaufen sie usw. Das heißt, dass die Menschen an die Gegenstände „glauben“, sie beabsichtigen, mit ihrer Hilfe Pläne zu verwirklichen usw.
Nun bringt der „Fluss der Zeit“ (Russell) immer neue solcher Lebensweisen an die Oberfläche des sozialen Lebens. (Schatzki) Die soziale Welt kann man als einen Satz (ein Universum) solcher Lebensweisen sehen. (S1) Das heißt, dass verschiedene Generationen verschiedene Lebensweisen einführen.
3. Fortschritt.
Im Lauf der Zeit erkennt man, dass die Gegenstände und Instrumente verbessert werden können; und man verbessert sie wirklich. Zum Beispiel bringt man die Ernte mit dem Mähdrescher ein anstatt mit einer Sichel; oder, statt zu Fuß zum Bahnhof zu gelangen, tut man dies mit dem Auto. Das Problem ist, dass man bald die alten sozialen Gegenstände als altmodisch betrachtet. Man glaubt ferner, dass die widerlegt sei.
Wir richten uns gegen diese Betrachtungsweise. Was „widerlegt“ wurde, war das alte Instrument oder das alte Objekt; nicht aber dieses Instrument bzw. Objekt oder die Praktik in ihrer Verbindungen sowohl mit den anderen Objekten und Praktiken als auch mit den Handelnden ihrer Zeit: in ihrer Kontext. Die herkömmliche Idee des sozialen Fortschrittes ist nicht korrekt. Sie zerstückelt die Geschichte in Segmente, die miteinander nicht in Verbindung sind.
Natürlich ist diese These nicht neu. In der modernen westlichen Philosophie wurde sie von Rousseau eingeführt und wurde später regelmäßig wiederholt.
Unser Projekt folgt aber einer anderen Ideenrichtung. Sie setzt sich auseinander mit einigen neuen Entwicklungen in der Geschichte, insbesondere mit der sogenannten experimentellen Archäologie. Ihr Gegenstand ist, vergangene Lebensweisen zu rekonstruieren und lebendig zu machen.
Die Auffassung, die wir vertreten, zielt auch darauf ab, die Herangehensweise von Dilthey und Collingwood zu kritisieren, die sich auf die Technik der „Einfühlung“ konzentrierten. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden ist, dass, während diese letztere Auffassung psychologisch orientiert ist, unsere reistische Sozialtheorie vollkommen objektiv ist.
4. Neue Richtung der Geschichtsontologie.
Der nächste Schritt, den wir in unserer reistischen Ontologie machen werden, ist, die Gegenstände und Praktiken des sozialen Lebens als solide Planken zu sehen. Genauer gesagt, sehen wir es als das berühmte Neurath’sche Schiff, das aus solchen Planken aufgebaut wurde, im „Fluss der Zeit“ segelnd. Die Planken eines solchen Schiffes — d.h. bei uns die verschiedenen sozialen Objekte und Praktiken — müssen ständig erneuert werden, und solch eine Erneuerung findet während des Segelns statt. Einige solcher Planken müssen sehr bald gewechselt werden, andere dagegen sind ziemlich alt, einige sogar aus der Bauzeit.
Das erste Ergebnis dieser Bauart der sozialen Wirklichkeit von Hier und Jetzt ist, dass sie aus „Planken” gefertigt ist, die ganz verschiedener Herkunft und Genealogie sind. Das bedeutet, dass die Elemente zeitlich verschiedener Lebensweisen sich zusammentun mit anderen Elementen, um ganz neue Lebensweisen zu gründen. (S2) Vermischt in dieser Form, kann das bloße Auge ihre Geschichte nicht sofort erkennen. Dies ist die Aufgabe der Geschichte als Humanwissenschaft.
Curriculum Vitae von Dr. Nikolay Milkov
- Paderborn
- Kaleidoscopic Mind: Essay in Post-Wittgensteinian Philosophy, Amsterdam: Rodopi, 1992
- Varieties of Understanding: English Philosophy since 1898, 2 vols., Frankfurt: Lang, 1997.
- A Hundred Years of English Philosophy, Kluwer: Dordrecht, 2003.