Sektionsredner
Roland Kipke, M.A. (Berlin) - Curriculum Vitae
Lebenskunst als Selbstformung
Abstract
Der Vortrag fragt nach der Berechtigung der Kritik an der modernen Lebenskunst (L.). Dazu schält er 1. wesentliche Punkte dieser Kritik heraus, unterscheidet 2. verschiedene Praktiken der L. voneinander, widmet sich 3. vorrangig einer Untersuchung des Aspekts der „Selbstformung“, um so schließlich 4. die Berechtigung der zentralen Kritik an der L. in vierfacher Weise in Frage zu stellen.
Die moderne L.lehre stößt mittlerweile auf massiven philosophischen Widerstand. Kritikpunkte sind u.a. 1. der unphilosophische Charakter der L. auch da, wo sie philosophisch sein will; ihre Neigung zu lebensethischen Plattitüden; 2. ihre Inhaltsleere (das betrifft v.a. Foucaults Existenz-Ästhetik), 3. der fragwürdige Rekurs auf antike Ethiken und die damit verbundenen anthropologisch-ontologischen Deutungen. Diese Kritikpunkte lassen sich bei Kenntnis der einschlägigen L.lehren leicht bestätigen, treffen sie jedoch nicht im Kern: Der Anspruch auf philosophische Fundiertheit wird ohnehin nur von einer Minderheit verfolgt und kann aufgegeben werden, ohne das Projekt L. verabschieden zu müssen. Die Trivialität mancher Lehren ist zwar philosophisch uninteressant, spricht aber nicht gegen das lebenskünstlerische Bemühen. Die Inhaltsleere ist ebenso wenig notwendiges Merkmal der L. wie die Bezugnahme auf traditionelle Theorien.
Der Haupteinwand jedoch betrifft das Verständnis von Leben, Handeln und Autonomie: Die L. verstehe Leben und Handeln falsch, gehe von einem maßlos überzogenen Autonomie-Verständnis aus, unterliege einem Selbstmächtigkeitsmythos und betrachte das Leben fälschlicherweise nach dem Modell technischen Herstellens (vgl. Kersting, Henrich, Thomä u.a.). Diese Kritik läuft auf die Behauptung hinaus, dass es das, wovon die L. spricht, nicht gebe; L. in dem von den L.-Befürwortern intendierten Sinne sei kaum möglich. Dieser Kritik muss sich die L.lehre stellen, denn sie trifft ihren Kern: ihren Willen zur Gestaltung des Lebens.
Um die Kritik auf ihre Berechtigung überprüfen zu können, muss dieses Element der Lebensgestaltung genauer untersucht werden. Die L. umfasst divergente Praktiken der Lebensbewältigung, die es für eine angemessene Kritik voneinander zu unterscheiden gilt. Eine solche Unterscheidung wird seitens der philosophischen Kritik an ihr kaum vorgenommen. Aber auch die L.-Autoren tragen wenig zu einer begrifflichen Aufklärung bei. So stellt Foucaults „Selbstsorge“ ein breites Sammelbecken für äußerst divergente Praktiken dar, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, sich irgendwie mit sich selbst zu beschäftigen.
Neben den inhaltlichen Elementen wie Werten und Lebensregeln und der rein kognitiven Selbsterkenntnis umfasst die L. v.a. drei Praktiken: Selbstkonstruktion, Selbstinszenierung und Selbstformung. Unter „Selbstkonstruktion“ ist die gezielte Veränderung evaluativer Selbstbilder zu verstehen. Mit „Selbstinszenierung“ sind die Verhaltensweisen gemeint, die die eigene Person zur Schau stellen, um ein bestimmtes Bild von ihr zu evozieren und sich selbst darin zu bestätigen. „Selbstformung“ bezeichnet die aktive und absichtliche Änderung von Persönlichkeitsmerkmalen durch die betreffende Person selbst.
Die zentrale Kritik an der L. richtet sich nicht gegen Selbsterkenntnis, Selbstkonstruktion und Selbstinszenierung, sondern gegen die Möglichkeit einer (weit reichenden) Selbstformung. Daher ist v.a. dieses Phänomen der Selbstformung und seine philosophische Relevanz genauer zu untersuchen. Aus dieser Analyse ergibt sich eine vierfache Antwort auf den genannten Vorwurf: 1. die Selbstformung ist ein eigenständiger Handlungstyp, der zwischen praxis und poiesis liegt. In der Kritik an der L. wird sie entweder auf einen kognitiven Akt reduziert oder als technisches Herstellen karikiert. Beide Strategien verhindern ein angemessenes Verständnis von Selbstformung. 2. Die Negierung der Möglichkeit von Selbstformung fügt sich ein in eine verbreitete Ignoranz gegenüber diesem Handlungstyp innerhalb der modernen Philosophie, wie sie sich auch in der phil. Anthropologie, der Persontheorie oder der Freiheitstheorie zeigt. Es ist das Verdienst der modernen L.philosophie, diese Aktivitätsform wieder zu Bewusstsein gebracht zu haben. 3. Die Kritik missachtet nicht nur die Tatsache, dass Selbstformung in einer Vielzahl historischer Geistesströmungen einen wichtigen Platz einnimmt, sondern widerspricht auch der Erfahrung unzähliger Menschen in Vergangenheit und Gegenwart. Die berechtigte Kritik an überzogenen Ideen von Selbstkreation schießt hier übers Ziel hinaus und droht von berechtigter philosophischer Skepsis in ideologische Befangenheit umzuschlagen. 4. Die zumeist von der modernen Moralphilosophie ausgehende Kritik an der L. tut sich mit dieser Missachtung der Selbstformung keinen Gefallen, denn auch die Moral bedarf des Moments der Selbstformung. Das gilt, auch wenn man die Ethik nicht tugendethisch fundiert: Autonomie und Tugenden müssen erlernt und geübt werden.
Curriculum Vitae von Roland Kipke, M.A.
- Bis 2001: Philosophie, Politikwissenschaft, Geschichte (Göttingen, Siena (Italien), FU Berlin). Abschluss: M.A.
- 2009: Neuroenhancement und Selbstformung (Kassel)
- Charité - Universitätsmedizin Berlin
- Medizinethik: (Neuro)Enhancement, Sterbehilfe,
- Anthropologie
- 2002 - 2003: Wiss. Mitarbeiter, Institut Mensch Ethik und Wissenschaft, Berlin
- 2003 - 2005: Wiss. Mitarbeiter, Enquete-Kommission, Deutscher Bundestag
- 2005: Wiss. Mitarbeiter, Charité Berlin, Institut
- Mensch und Person, Berlin 2001