Sektionsredner
Dr. Christoph Henning (St. Gallen, CH) - Curriculum Vitae
Perfektionismus und Philosophie der Arbeit
Abstract
In der politischen Philosophie der Gegenwart zeichnet sich insbesondere im angelsächsischen Sprachraum neben dem egalitären Liberalismus von John Rawls und seinen einerseits libertären, andererseits kommunitaristischen Kritiken eine weitere rechtfertigungstheoretische Grundposition ab, die "Perfektionismus" genannt wird. Das normative Kriterium, an dem Güte oder Gerechtigkeit sozialer Strukturen und sozialpolitischer Massnahmen hier gemessen wird, ist nicht länger eine egalitäre Verteilung von Grundgütern, eine Gewährleistung negativer Freiheiten oder die Ermöglichung von Gemeinschaft, sondern die Entwicklung der Fähigkeiten der Bürger, die wiederum anhand von objektiven Vorstellungen des "guten Lebens" bewertet werden.
Obzwar solche Ideen etwa schon von Aristoteles, Wilhelm v. Humboldt und J.S. Mill diskutiert wurden, ist der Bezug auf Themen der sozialen Gerechtigkeit im modernen Wohlfahrtsstaat neu. Ein Kennzeichen der "Neuigkeit" dieser Diskussion dürfte es sein, dass ganz verschiedene Lager den Perfektionismus in Anspruch nehmen. Stand schon bei Karl Marx die Idee einer "allseitigen Entwicklung des Individuums" im Hintergrund seiner Kapitalismuskritik, so vertritt noch Thomas Hurka (1993), der prominenteste Vertreter des Perfektionismus, einen verteilungstheoretischen Egalitarismus. Andererseits sind jedoch gerade die Um- und Abbauten des bisherigen Sozialstaates in den 1980er Jahren von Schriften eingeleitet worden, die an zentraler Stelle mit den Fähigkeiten der Bürger und ihrer möglichen Beschädigung durch wohlfahrtsstaatliche Um-verteilung argumentierten (Murray 1984, L. Mead 1986). Ich meine, das Konzept der "capabilities" von Amartya Sen (1992) ist gerade deswegen so populär, weil es zu beiden Seiten hin offen und damit im Grunde in der Anwendung recht unbestimmt ist.
Dieser Unbestimmtheit will mein Vortrag abhelfen, indem er den Perfektionismus auf ein Thema hin engführt, nämlich auf die Arbeit; und dazu die zwei Klassiker Mill und Marx befragt. Die gegenwärtige Transformation des Sozialstaats wirft ja die Frage auf, welche Rolle die Ausübung einer regulären Arbeit (in der Regel: Lohnarbeit) für die Ausbildung eines "Charakters" (Wilson 1995), mithin die Herausbildung und Pflege bestimmter als wünschenswert angesehener Fähigkeiten spielen kann. Es ist demnach von der politischen Philosophie nicht nur zu klären, ob und inwieweit die Gemeinschaft verantwortlich für die Ausbildung der Fähigkeiten ihrer Mitglieder ist (und die Bürger dazu unter Umständen verpflichtet werden können), sondern auch zu erörtern, ob die Ausübungen einer Arbeit dazu das geeignete Mittel darstellt. Die Philosophie der Arbeit hat sich bislang vorrangig mit den Möglichkeiten eines Rechts auf Arbeit bzw. eines bedingungslosen Grundeinkommens beschäftigt (synoptisch Krebs 2002). Die neu zu stellende Frage ist indes, ob sich mit perfektionistischen Argumenten auch gegen den Willen der Bürger eine "Pflicht zur Arbeit" rechtfertigen liesse. Autoren wie Wolfgang Kersting (2002) oder Ottfried Höffe (2004) scheinen dies anzunehmen.
Diese Frage ist deswegen so dringend, weil die "aktivierende" Wohlfahrtsstaatsreform dies für Teile der Bevölkerung bereits praktiziert und stillschweigend davon ausgeht, dass dies normativ gerechtfertigt sei. Das ist jedoch, wie ich meine, von Seiten der politischen Philosophie keineswegs ausgemacht. Der normativen Rechtfertigung einer perfektionistischen Wohlfahrtspolitik will sich der Vortrag über eine Grundlagenreflexion nähern, die zwei Klassiker des Perfektionismus, Marx und Mill, neu befragt. Dazu werden in Auseinandersetzung mit aktueller Literatur folgende Fragen erläutert:
Worin besteht ihr jeweiliger Perfektionismus? Was ist das Gemeinsame?
Wie lässt sich die Philosophie der Arbeit bei Mill und Marx mit den perfektionistischen Gedanken verbinden?
Was ergeben sich daraus für Auflagen für Individuum und Gemeinschaft?
Überraschend an dieser Grundlagenreflexion ist, dass in beiden Fällen, so unterschiedlich die Autoren sonst sind, eine Arbeitspflicht auf perfektionistischer Grundlage nur sehr schwer zu rechtfertigen ist. Daraus lässt sich mit MIll und Marx eine philosophische Kritik an Tendenzen der gegenwärtigen Sozialstaatstransformation gewinnen.
Literatur:
Anderson, Elizabeth: „What is the Point of Equality?“, Ethics 109 (1999), S. 287-337
Höffe, Otfried: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München 2004
Hurka, Thomas: Perfectionism, Oxford 1993
Kersting, Wolfgang: Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und Moral, Weilerswist 2002
Krebs, Angelika: Arbeit und Liebe, Frankfurt/M. 2002
Mead, Lawrence: Beyond Entitlement. The Social Obligations of Citizenship, New York 1986
Murray, Charles: Loosing Ground. American Social Policy 1950-1980, New York 1984
Sen, Amartay: Inequality Reexamined, Oxford 1992
Wilson, James Q.: Character. Essays, Washington DC 1995
Curriculum Vitae von Dr. Christoph Henning
- Bis 1999: Philosophie, Soziologie, Musikwissenschaft, politische Ökonomie (Dresden, New School University, HU Berlin). Abschluss: Magister
- 2003: Philosophie nach Marx (TU Dresden)
- 2010: Arbeitstitel: "Wohlfahrt als Glück in Gemeinschaft. Zu alternativen Egalitarismusbegründungen" (St. Gallen)
- Universität St. Gallen
- Politische Philosophie
- Ideengeschichte
- Wohlfahrt und Arbeit
- 2004 - 2006: Assistent im Bereich Kulturwissenschaft, Zeppelin University
- 2006 - heute: Assistent am Fachbereich Philosophie
- Philosophie nach Marx, Bielefeld 2005
- (Hg.): Marxglossar, Berlin 2006
- (Mithg.): Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale, Bielefeld 2006