Sektionsredner
Dr. Jessica Heesen (Stuttgart) - Curriculum Vitae
Informationsethik und Spatial Turn
Abstract
Jessica Heesen, Universität Stuttgart
Informationsethik und Spatial Turn
Kontextbezogene Informations- und Kommunikationstechniken (IT) sind ein neuer Typ von Medien, der ein breites Spektrum der kommenden IT-Generation abdecken wird [vgl. Loke 2006]. Nutzerinnen und Nutzer sollen sich mit Hilfe mobiler Endgeräte und auch durch Informationen innerhalb der Umgebung (Ambient Intelligence) zum Beispiel über die jeweiligen Verkehrsverhältnisse oder über die anwesenden Personen erkundigen können beziehungsweise über einzelne Objekte in Hinsicht auf Gebäudegeschichte oder Maschinenfunktionen.
Die Hinwendung der Medientechnik zum Kontext als dem konkreten und singulären Raum der menschlichen Erfahrung korrespondiert einer Entwicklung in Kulturwissenschaften, Geographie und Stadtplanung, die als „Spatial Turn“ oder „Topogaphical Turn“ bezeichnet wird [vgl. Weigel 2002]. Unter der Bezeichnung Spatial Turn wird versucht, die Topographie des Raums sozial- und kulturgeschichtlich lesbar zu machen. „ … die Bedeutung von Räumen [wird] radikal reformuliert: als Signatur materieller und symbolischer Praktiken" [Weigel 2002, 159, vgl. Levèbvre 1991].
Gleichzeitig mit der Zunahme der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung und von Medien, die Orte und Zeiten überwinden, findet insofern eine Neuorientierung auf den empirischen Raum statt. Motiviert ist dieses Forschungsinteresse unter Anderem aus (post)strukturalistischen Strömungen, die in verschiedenen Spielarten das Wechselseitige als solches im Prozess der Hervorbringung von Praktiken, Theorien, Begriffen betonen und damit das Konkrete als notwendige Bedingung des Abstrakten aufwerten.
Raumkonzepte in der Medien- und Informationsethik
Der kanadische Medienwissenschaftler Harold A. Innis wies 1950 als erster systematisch das Potenzial der Medien zur Veränderung physischer Umwelten auf und untersuchte die Effekte der Kommunikationstechnik auf die Formen sozialer Organisation. Fortgesetzt wurden solche Ansätze mit den Cultural Studies, die moderne Kulturphänomene interdisziplinär bearbeiten. Diese Linien wurden durch die klassische Medienethik jedoch nicht aufgegriffen, die sich hauptsächlich auf Probleme der Massenmedien aus Perspektive einer Journalistischen Ethik konzentrierte. Die Beschäftigung mit Fragen der Delokalisierung von Kommunikation kam in Medientheorie und Politikwissenschaft seit Mitte der 1990er mit der breiten Etablierung des Internet unter neuen Vorzeichen in Konjunktur. Die Rolle einer kritischen Auseinandersetzung mit der Bedeutung der individuellen Netzkommunikation für Infrastruktur und Raumgestaltung übernahm in jüngerer Zeit vor allem die Sozialgeographie. Die Beschäftigung mit den ethisch-normativen Implikationen dieses Wandels steht jedoch weiterhin aus.
Die Signatur des Raums durch kontextbezogene Anwendungen
Die (vermeintliche) Dichotomie zwischen Ortsbezug einerseits und Globalisierung und ständiger Erreichbarkeit andererseits wird durch kontextbezogene Anwendungen aufgehoben. Bei der Anwendung von kontextbezogener IT geht es immer um einen Versuch der Reduktion der Komplexität vor Ort. Das Stiften von Ordnung findet statt durch die Erstellung von Umgebungsmodellen oder Nutzerprofilen. Der konkrete Ort wird hier zwar als Bedeutungs- und Orientierungseinheit berücksichtigt, gleichzeitig wird er jedoch nivelliert, überwunden und neu erschaffen in einer symbolischen Dimension.
Neue Herausforderungen der Informationsethik
Informationsethik hat die Aufgabe, die materielle und symbolische Signatur informationstechnisch durchdrungener Umgebungen ethisch lesbar zu machen. Bereits mit dem Aufkommen des Internet erhielt das Lokale als Gegenpol und Korrektiv einer globalen Netzkommunikation erhöhte Aufmerksamkeit [vgl. Capurro 2003, 381]. Die zukünftige Entwicklung hin zu einer allgegenwärtigen Erweiterung der IT in die gegenständliche Umgebung verschärft die Relevanz einer systematischen Beschäftigung mit den Wechselwirkungen zwischen globalen Regeln (Raum) und lokalen Praktiken und Aneignungen (Ort) [vgl. Tuan 2001].
Der für den Deutschen Kongress für Philosophie geplante Vortrag soll die ethische Relevanz einer Entzifferung der lokalen Wirkweisen der neuen IT-Generationen verdeutlichen und gleichzeitig einen Beitrag zur systematischen Erweiterung der Informationsethik leisten.
Capurro, Rafael, Die Rückkehr des Lokalen. In: Dieter Klumpp/ Herbert Kubicek/ Alexander Roßnagel (Hg.): next generation information society? Notwendigkeiten einer Neuorientierung. Mössingen-Talheim 2003, 376 – 384.
Lefèbvre, Henri: The Production of Space. Übs. v. Donald Nicholson-Smith, Oxford 1991.
Loke, Seng: Context-Aware Pervasive Systems: Architectures for a New Breed of Applications, Norwood 2006.
Tuan, Yi-Fu: Space and Place. The Perspective of Experience, Minneapolis 2001.
Weigel, Sigrid, Zum 'topographical turn'. KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, 2002, 2/2, 151 - 165.
Curriculum Vitae von Dr. Jessica Heesen
- Philosophie (Köln, Tübingen)
- 2007: Interaktive Medien und Therien der öffentlichen Kommunikation (Stuttgart)
- Stuttgart
- Informations- und Medienethik
- Sozialphilosophie
- Kulturphilosophie
- 2002: Wissenschaftliche Mitarbeiterin
- Jessica Heesen, Medienethik, in: Marcus Düwell/ Christoph Hübenthal/ Micha H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Stuttgart: Metzler 2. Aufl. 2006, 263 – 268.
- Jessica Heesen, Keine Freiheit ohne Privatsphäre – Wandel und Wahrung des Privaten in informationstechnisch bestimmten Lebenswelten. In: Sandro Gayken/ Constanze Kurz (Hg.): 1984.exe – Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien. Transcript: Bielefeld 2008, 231- 246.
- Jessica Heesen, Individuelle Freiheitsrechte als Grundlage einer Ethik des Internet, in: Thomas Hausmanninger/ Rafael Capurro (Hg.): Netzethik. Grundlegungsfragen der Internetethik (Schriftenreihe des ICIE Bd. 1), München: Fink 2002, 163 – 180.