Sektionsredner
Dr. Marco Haase (Peking, VRC) - Curriculum Vitae
Positive Freiheit und Subsidiarität
Abstract
Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist ein Kennzeichnen des modernen Gemeinwesens. Gilt die Gesellschaft als die Sphäre des freien Spiels der Partikularinteressen, kommt dem Staat die Aufgabe zu, die widerstreitenden Interessen nach Maßgabe des Rechtes und des Gemeinwohls zu integrieren. Zwischen Staat und Gesellschaft können freilich vielfältige Institutionen vermitteln. In der Bundesrepublik Deutschland sind das neben der Familie beispielsweise die Gemeinden, die berufsständischen Kammern, die öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungsträger, die Sparkassen, die Genossenschaften, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.
In den letzten Jahren sind jedoch die Akzeptanz und die Handlungsfähigkeit vieler dieser intermediären Einrichtungen zweifelhaft geworden. Der Sinn von öffentlich-rechtlichen Berufskammern, Bank, Sozialversicherungsträgern und Rundfunkanstalten scheint nicht mehr einsichtig. Dabei können die Angriffe auf die intermediären Institutionen zwei Ziele verfolgen. Entweder kann eine Privatisierung zugunsten eines freien Spiels der Partikularinteressen verlangt werden oder aber die Verstaatlichung der Aufgaben, die zuvor nicht-staatliche Instanzen erfüllt haben. Für beide Stoßrichtungen ist die Legitimation der Bindungen an die intermediären Einrichtungen zweifelhaft geworden. Im Namen der Freiheit wird die Privatisierung oder die Verstaatlichung verlangt, weil die Fesseln der intermediären Einrichtungen nicht gerechtfertigt scheinen.
Diese Kritik an der Freiheitsbeschränkung durch die intermediären Institutionen ist geprägt von einem Freiheitsbegriff, der Freiheit im wesentlichen negativ als Abwesenheit von äußeren Zwängen versteht. Wird demgegenüber die Freiheit als Möglichkeit, das Richtige, das Vernünftige, das Gute zu tun, verstanden, erhalten auch die intermediären Gewalten eine Legitimationsgrundlage, sofern sie den Raum schaffen, in dem diese vernünftige Freiheit verwirklicht werden kann. Der Begriff der positiven Freiheit ist dabei mit dem Prinzip der Subsidiarität verknüpft. Denn was ein vernünftiger Lebensentwurf verlangt, kann nicht universal ermittelt werden, sondern bedarf der Konkretisierung in einem bestimmten Kontext, wo den Besonderheit der einzelnen Menschen, ihren jeweiligen Interessen, Fähigkeiten, Erfahrungen und Wünschen Rechnung getragen werden kann. Die Konkretisierung der positiven Freiheit bedarf der Selbstorganisation in unterstaatlichen Institutionen.
Der Begriff positiver Freiheit ist freilich problematisch. Mit einer Konzeption der positiven Freiheit ist eine Wertung verschiedener Handlungsoptionen und Lebensentwürfe verbunden. Das Handeln wird also nicht allein in das Belieben des einzelnen gestellt, sondern hat vorgegebenen Sollensvorgaben zu folgen. Wird dieser Freiheitsbegriff nicht nur moralisch als mehr oder wendiger unverbindlicher Appell an den einzelnen verstanden, sondern wird er durch die intermediären Institutionen vorgegeben, ist mit dem positiven Freiheitsbegriff die Lenkung des Lebens verbunden.
Dieser Lenkungsanspruch wäre allerdings unproblematisch, wenn tatsächlich allgemeingültig erkannt werden kann, was das richtige Leben des Menschen ist und welche Institutionen für die Verwirklichung des richtigen Lebensentwurfes erforderlich sind. Nach dem Ende der religiösen Gewißheiten sind jedoch dieser positive Freiheitsbegriff und damit auch die Institutionen, in denen sich diese substantielle Freiheit verwirklichen soll, fragwürdig geworden.
Andererseits ist zweifelhaft, ob ein Gemeinwesen auf eine Konzeption positiver Freiheit verzichten kann. Wird die Frage nach dem Lebenssinn privatisiert, droht sich der gemeinsame Sinnhorizont zu verlieren, der für eine gemeinsame Gestaltung des Lebens in einem Staat erforderlich ist. Die Verstaatlichung hingegen birgt die Gefahr, daß die Anonymität staatlicher Herrschaft die Beschränkung der Freiheit des einzelnen nur verschleiert und statt zu einer größeren Freiheit zu einer heimlichen Entmündigung des einzelnen führt. Deshalb bleibt die Frage, ob jenseits religiöser Gewißheiten ein positiver Freiheitsbegriff möglich ist, der dem Prinzip der Subsidiarität wieder Überzeugungskraft verleihen kann.
Curriculum Vitae von Dr. Marco Haase
- Bis 1994: Philosophie, Rechtswissenschaften (FU Berlin, Universität Grenoble, Universität Freiburg, Edinburgh University, HU Berlin). Abschluss: Staatsexamen/MSC.
- 2002: Vergleich der Rechts-, Staats-, Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie von Kelsen, Kant und Hegel (HU Berlin)
- China Universität für Politik- und Rechtswissenschaften, Peking
- Politische Philosophie, Rechtsphilosophie,Verfassungstheorie
- Erkenntnistheorie, Ästhetik, Naturphilosophie
- Interkulturalität
- 1999 - 2006: Rechtsanwalt
- 2004 - 2006: Lehrbeauftragter für Philosophie an der FU Berlin und der HU Berlin
- 2007: Stellvertretender Direktor des Deutsch-chinesischen Institutes für Rechtswissenschaften
- Grundnorm, Gemeinwille, Geist - Der Grund des Rechts von Kelsen, Kant und Hegel, Tübingen 2004
- Der „The Hegelianism in Kelsen’s Pure Theory of Law“, in: Kenneth Einar Himma (Hrsg.): Law, Morality, and Legal Positivism: Proceedings of the 21st World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy (ARSP Beihefte), Franz Steiner Verlag 2004.
- „Der Wille des Volkes und das Problem der Repräsentation“, in: K. Graf Ballestrem, V. Gerhardt u.a. (Hrsg.): Politisches Denken, Jahrbuch 2005, Berlin 2006.