Sektionsredner
Dr. Christian Grüny (Wittten-Herdecke) - Curriculum Vitae
Zusammengeflickte Tonlinien und unbewohnbare Räume: Phänomenologie und ästhetischer Konservatismus
Abstract
Raum ist eines der wesentlichen Themen der klassischen Phänomenologie. Mit der Lebenswelt-Thematik der Krisis wird die phänomenologische Raumanalyse wissenschaftstheoretisch mobilisiert, um die Abstraktionen der naturwissenschaftlichen Modellierung der Welt an ihr zu messen, aber sie beschränkt sich nicht auf diese Pointe der Kritik am naturwissenschaftlichen Selbstverständnis. Die wesentliche Erkenntnis, die der Analyse der Raumerfahrung in Husserls Ideen 2, der Explikation des existenziellen Raums in Heideggers Sein und Zeit und der Aufarbeitung des leiblichen Raums in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung bei allen Unterschieden zugrundeliegt, ist das genetische Primat des orthaften, durch ein in der Welt engagiertes leibliches Subjekt sich gliedernden Raums gegenüber dem neutralen Raum Newtons und Descartes’.
An dieses Raummodell wurde implizit oder explizit von phänomenologisch orientierten Musikwissenschaftlern wie Kurth, Bekker, Wellek und Zuckerkandl angeschlossen, um einen musikalischen Raum zu beschreiben, in dem Töne nicht wie res extensae lediglich vorkommen, sondern der von Kraftlinien durchzogen ist, Gravitationszentren aufweist und auf die Tonart als jeweiligen Boden bezogen ist. Die zeitliche Struktur der Musik kann als Durchlaufen eines orientierten und orientierenden Raums beschrieben werden, der deutliche Parallelen zum leiblichen Orientierungsraum hat.
Nun gilt all dies nur für die tonale Musik der klassischen Tradition, die ihre Gestaltungskraft wesentlich aus dem Umgang mit den Spannungen dieses Raumes bezogen hat, und hier sind die von den erwähnten Autoren vorgelegten Beschreibungen höchst produktiv. Ein im emphatischen Sinne orientierungsloser Raum aber, wie ihn Schönberg postuliert und praktisch entfaltet hat, fällt aus diesem Beschreibungsraster. Es ist bemerkenswert, wie nun die deskriptiven Kategorien der phänomenologischen Beschreibung normativ aufgeladen werden und der Neuen Musik insgesamt eine Ablehnung entgegengebracht wird, die nicht nur von Ressentiments gespeist ist, sondern aus den Grundbegriffen der Methode selbst abgeleitet wird. Durch die Kategorien des Orthaften und der Orientierung, die sich auch dort in Anschlag bringen lassen, wo sie nicht explizit in Anspruch genommen werden, bekommt diese Ablehnung eine anthropologische Grundierung, die sich aber nicht auf die empirischen Grenzen des menschlichen sinnlichen Fassungsvermögens wie etwa bei Ansermet, sondern auf die elementaren Sinnstrukturen der Wahrnehmung bezieht.
Ein Seitenblick in die Architektur zeigt, daß sich hier eine Parallele findet: Ein emphatisch den Ortsbegriff gegen den Raumbegriff ausspielender Theoretiker wie Casey reagiert ebenso ablehnend gegenüber einer auf die Gestaltung von Räumen und Raumerfahrung abzielenden Architektur, die sich nicht vorweg an den Verortungs- und Orientierungsbedürfnissen der Bewohner ausrichtet. Die Befreiung der Architektur und des architektonischen Raumes, wie sie van Doesberg fast wortgleich mit Schönberg propagiert, wird ebenso auf phänomenologischer Grundlage abgelehnt wie die Befreiung der Musik. Auch wenn es unbestritten ist, daß die Gestaltung von Wohnraum am Ende anderen Notwendigkeiten folgt als die Gestaltung von Musik, ist die Parallele doch verblüffend.
Entscheidend ist dabei aber, daß dieser Konservatismus nicht zwingend mit der Phänomenologie verbunden werden muß. Husserls Ethos der Aufmerksamkeit auf das, was sich gibt, kann als Exempel für eine grundlegende Offenheit gegenüber neuen Gestaltungsmöglichkeiten von Erfahrung dienen. Dennoch bleibt es lehrreich, daß der ästhetische Konservatismus nicht einer Mißdeutung phänomenologischer Forschungsergebnisse entspringt, sondern plausibel aus bestimmten Strängen der phänomenologischen Tradition abgleitet werden kann.
Curriculum Vitae von Dr. Christian Grüny
- Bis 2000: Philosophie, Linguistik (Ruhr-Universität Bochum, Karlsuniversität Prag, Freie Universität Berlin). Abschluss: Magister
- 2003: Zerstörte Erfahrung. Eine Phänomenologie des Schmerzes (Ruhr-Universität Bochum)
- Universität Witten/Herdecke
- Philosophie Ästhetik, Schwerpunkt Musik
- Phänomenologie der Leiblichkeit
- Schmerz und Gewalt
- 1.10.2003 - heute: Wissenschaftlicher Mitarbeiter