Sektionsredner
Professor Dr. Stephan Grätzel (Mainz)
Handlung im Spiegel von Erzählung und Mythos
Abstract
Handlung ist für das allgemeine Verständnis die Tätigkeit eines Handelnden, die über die bloße Tat hinausgeht. Sie ist ein Gebilde von einzelnen Taten mit einer chronologisch oder teleologischen Ordnung..
Die Strukturen der menschlichen Handlung sind dabei an der Geschichte des menschlichen Lebens orientiert. Menschliche Handlungen sind Teile einer Biografie und an die Form der Biografie mit ihren Grenzen und Übergängen gebunden. Die Struktur der Handlung ist damit durch die Biographie und ihre Eckpunkte – Beginn und Ende des Lebens – vorgegeben. Dazwischen gibt es kritische Wendungen oder Krisen im Leben, die eigene Spannungsbögen sowohl untereinander als auch zu den Grenzen des Lebens aufbauen.
Das menschliche Leben ist aus vielen einzelnen Handlungen zusammengesetzt. Diese Handlungen haben fließende Grenzen, die den chronologischen und teleologischen Spannungsverlauf der Biographie übernehmen. Durch die Übernahme des Spannungsverlaufes der Biographie mit ihrem vorgegeben Anfang und Ende sind Handlungen abgeschlossene Verläufe. Diese Handlungsverläufe werden durch ein Narrativ oder einen Geschehenszusammenhang dargestellt.
Handlungen können aufgrund ihres chronologischen und teleologischen Verlaufs wiedergegeben, also berichtet, erzählt oder mimisch dargestellt werden. Die Formen der Wiedergabe erscheinen zwar zunächst als sekundäre Merkmale der Handlung, denn Handlungen müssen grundsätzlich nicht wiedergegeben werden, um als Handlungen zu erscheinen. Für das Verständnis und den Begriff der Handlung ist aber diese Möglichkeit der Wiedergabe grundlegend. Es kann schon für das gewöhnliche Verständnis nur dann von Handlungen gesprochen werden, wenn Verläufe darstellbar oder erzählbar sind und dabei einen erzählbaren Zusammenhang von Ereignissen bilden. Vorgänge müssen erzählbar sein, um zu einer Handlung zu gehören. Die Erzählbarkeit gründet sich auf die chronologische und teleologische Ordnung der Handlung selbst. Handlung und Erzählung sind mit dieser logischen Gemeinsamkeit eng miteinander verbunden. Die chronologische und die teleologische Ordnung der Erzählung bilden die horizontale Linie der Handlungen. Diese Horizontale regelt die Fakten und ihre Reihung und bestimmt damit den Handlungsverlauf, in den die Fakten durch die Erzählung eingebaut werden.
Neben der horizontalen Ausrichtung ist noch eine weitere vertikale Ausrichtung maßgeblich. Die vertikale Ausrichtung bindet den Geschehensverlauf in die Geschichte ein und macht ihn damit selbst zur Geschichte. Durch die Einbindung in die Geschichte wird die mythologische Ordnung der Narration entfaltet. Diese mythologische Ordnung bindet das Ereignis in das geschichtliche Umfeld ein. Die Einbindung geschieht mithilfe der Erzählung. Zwar sind Handlungen immer schon in eine Geschichte eingebunden, weil sie aus einer Geschichte hervorgehen, diese Einbindung ist aber nicht direkt erkennbar. Mit der Erzählung wird die Einbindung nicht nur thematisiert und erkennbar gemacht, sie wird auch poetisch gestaltet. Dabei kann sich die Erzählung von der strikten horizontalen Ordnung der Chronologie und Teleologie lösen und eine freie Zusammensetzung einzelner Handlungssequenzen vornehmen. Diese Möglichkeit freier Zusammensetzung ist durch eine allgemeine Sequenz der Handlung gegeben, welche die Einheit des Geschehens auch in der Umstellung und Verstellung der chronologischen oder teleologischen Ordnung gewährleistet.
Mit der Einbindung in einen Hintergrund gewinnt das geschichtliche Umfeld Einfluss auf Erzählung und Handlung. Die mythologische Ordnung bestimmt den Einfluss der umfassenderen Geschichte auf die einzelnen Geschichten. Sie macht auch aus dem konkreten Leben und seinen Handlungen einen Mythos, den sog. Alltagsmythos, unter dem legendäre Gestalten wie etwa Pop-Stars und deren Geschichte verstanden werden, aber auch besondere Produkte des modernen Lifestyle und seiner Mode. Der Alltag wird über Alltagsmythen und deren Mythologien wesentlich gestaltet. Erzählungen greifen also nicht nur auf Geschichte zurück, sie gestalten auch wesentlich die Realität, indem sie die Realität auf einen allgemeinen Mythos, den Kernmythos beziehen, der darin liegt, dass Leben gelingendes Leben sein soll. Der Soll-Charakter der Realität liegt in ihrer Mythologisierung durch Heilsgeschichten und deren Helden, die zu Vorbildern oder auch Mode- Ikonen werden. Die Mythologisierung macht das Ereignis zum bedeutsamen Ereignis und gibt ihm die Integration, die es zum Ereignis einer Handlung werden lässt. Handlungen sind damit komplexe Gebilde, die sich aus Taten und Ereignissen zusammensetzen.
Sie müssen erzählbar sein und und werden durch die Geschichte bedeutsam, die sie bilden, darstellen oder erzählen.
Die Mythologie gründet und integriert eine Erzählung in eine Gesamtheit der Geschichte.
Aus der mythologischen Gründungs- und Integrationsleistung heraus werden Geschichten verbindlich und politisch instrumentalisierbar.