Sektionsredner
Priv.-Doz. Dr. Martin Gessmann (Heidelberg) - Curriculum Vitae
Was der Mensch wirklich braucht. Für eine anthropologische Hermeneutik
Abstract
Der Vortrag geht einem Wandel im Umgang des Menschen mit seiner Umwelt nach, besonders seiner technischen Umwelt. Eine Tendenz ist hier zu beobachten, wo in technisch weit ausdifferenzierten Lebenswelten Räume wieder zentriert erscheinen, und zwar um den Kern eines lebens- und handlungsorientierten Aktors. Gernot Böhme hat dieses Phänomen für die Architektur evident gemacht und als einen Übergang zu einer neuen Epoche beschrieben (in: Architektur und Atmosphäre, München 2006). Die Moderne lebte einst vom Funktionalismus, der die Ernüchterung ins Bauen brachte und das Wohnen auf die Silo-Funktionen der bloßen Aufbewahrung und Konservierung reduzierte. Die Postmoderne pflegte dagegen eine Kultur ornamentaler Übertreibung. Heute, nach der Jahrtausendwende, will der Mensch offenbar nicht mehr in ihm fremd gewordene Räume gestellt werden, sondern fordert umgekehrt, daß Räume wieder um ihn und seine alltäglichen Bedürfnisse herumgebaut werden. Es handelt sich dabei in erster Linie um einen atmosphärischen Fortschritt, insofern Räume wieder aus sich und ihrer grundsätzlichen ‚Wohnanlage‘ heraus wirken sollen. Man kann über Böhmes Diagnose noch hinausgehen und behaupten, daß dabei überhaupt eine neue Bewertungsgrundlage aufscheint, die neue Maßstäbe für das Gelingen von Architektur nahelegt - wo es dem Menschen um eine Entfaltung im Sinne genuiner Lebensräumen geht.
Was der Mensch wirklich braucht, diese Frage soll an einem technischen Beispiel erörtert werden. Dabei geht es zuerst darum, was der Mensch braucht, ohne es im Grunde wirklich nötig zu haben. Dieser Zug soll
1.) auf der Ebene der Technik,
2.) im Denken der Ökonomie und
3.) als begründet in unserer Kultur und deren neuen Menschenbild
analysiert werden.
Im zweiten Schritt geht es darum, was der Mensch wirklich braucht. Dem zuvor skizzierten Menschenbild soll mit einer Alternative begegnet werden. Die leitende Frage ist dann: Wie kommt der Mensch zurück ins Zentrum der Aufmerksamkeit inmitten einer technologisch geformten Lebenswelt? Neue Maßstäbe darf man hier von einem vertieften Verständnis unserer Alltagspraxis erwarten. Meine These wird sein, daß hierzu eine Übertragung der Analysemittel der Text-Hermeneutik zurück ins Lebenspraktische Gewinn verspricht. Heidegger und Gadamer werden dabei die Gewährsmänner sein.
Das Beispiel stammt aus dem Automobilbau des vergangenen Jahrzehnts. Es findet sich im Zusammenhang mit den medialen Möglichkeiten, die es sich zur Maxime gemacht haben, Nützliches mit Angenehmem zu kombinieren. Im konkreten Fall geht es um die Einführung der Bildschirme in die Oberklasse der Audi-Flotte, die neben der Navigation auch die Television gestatten. In der Folge stellte sich allerdings heraus, daß die Funktionen ‚Autofahren’ und ‚Fernsehen’ zugleich nicht wahrnehmbar sind, ohne daß es zu Kollisionen, auch im wörtlichen Sinne, kommt. Die darauffolgende Weiterentwicklung der multimedialen Technik im Auto ist ein Beispiel dafür, wie die prekär gewordene Erweiterung der Möglichkeiten nicht zurückgenommen, sondern nur immer weiter diversifiziert und spezifiziert wird. Zur Not bleibt sie als nur bislang noch nutzlose Option für die Zukunft präsent.
Die Analyse einer Verselbständigung der technischen Möglichkeiten gegenüber ihrer Anwendungswirklichkeit muß im Anschluß noch ergänzt werden durch eine Analyse der zugehörigen Motive. Maßgeblich ist hier ökonomisch der Übergang von einer Mangel- zu einer Überflußwirtschaft verbunden mit der These vom neuen Inszenierungswert der Waren, der den Tauschwert über den Gebrauchswert hinaus bestimmt. In Erweiterung dieser These kann man auch davon ausgehen, daß kulturell sich die diese Wertvorstellung als modellierend auf die Struktur menschlichen Verlangens schlechthin auswirkt. Die zeitgenössische Anthropologie argumentiert vergleichbar und geht inzwischen von einer ‚luxurierenden’ Bewirtschaftung menschlicher Bedürfnisse aus.
Für die Frage nach einer möglichen Alternative versuche ich an Heideggers frühe Phänomenologie mit ihrem unmittelbaren Praxisbezug anzuknüpfen und diese ‚Daseinsanalyse’ anschließend mit einer Dimension für den historischen Wandel technischer Apparate und Gerätschaften zu erweitern. Dazu erscheint die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers mit dem Konzept der Wirkungsgeschichte als Instrumentarium prädestiniert. Notwendig ist freilich eine Übertragung von der Sphäre der Textauslegung auf diejenige praktischer Handhabung. Ziel ist es dabei, flexible Verständnismaßstäbe für den Fortgang einer Geräteentwicklung hervorzubringen, bei der sich die Verwendungsmöglichkeiten neuer Generationen grundsätzlich im nachvollziehbaren Anschluß an die bereits erlernte Handhabe der Vorgängergeneration halten müssen. Nur dort, wo man ausgehend von dem, was man schon kann und ‚versteht’, auf das kommt, was man auch noch alles können kann, so daß es ausbau- und anschlußfähig erscheint, ergäbe sich demnach ein begründetes Vorurteil darüber, was der Mensch wirklich braucht.
Curriculum Vitae von Priv.-Doz. Dr. Martin Gessmann
- Bis 1992: Philosophie, Germanistik, Romanistik (Tübingen, Nantes, Washington D.C.). Abschluss: Doktor
- 1992: Logik und Leben. Zur praktischen Grundlegung der Hegelschen Dialektik (Tübingen)
- 2002: Moralistik und Moderne (Heidelberg)
- Heidelberg
- Hermeneutik und Postmoderne
- Deutscher Idealismus
- Phänomenologie
- 1993 - 1995: Wiss. Mitarbeiter Halle/Saale
- 1996 - 1998: Wiss. Mitarbeiter Heidelberg
- 1999 - 2008: Assistent und Oberassistent Heidelberg
- Wittgenstein als Moralist
- Montaigne und die Moderne
- Hegel