Sektionsredner
Dr. Doris Gerber (Tübingen) - Curriculum Vitae
Kollektive Verantwortung
Abstract
Wir sind es gewohnt, moralische Verantwortung nicht nur Individuen, sondern auch Gruppen von Personen, Institutionen oder Organisationen zuzuschreiben, wobei wir diese sowohl für Handlungen und ihre Konsequenzen als auch für Unterlassungen verantwortlich machen. Was aber meinen wir damit? Kann Kollektiven unterschiedlicher Art wirklich moralische Verantwortung im eigentlichen Sinne zugeschrieben werden?
In der Handlungs- und Sozialphilosophie hat sich die Diskussion über kollektive Verantwortung zunächst auf historische Auseinandersetzungen konzentriert, wie auf die Debatte über die so genannte deutsche Kollektivschuld oder über das Massaker in My Lai während des Vietnamkrieges. In jüngerer Zeit ist dieses Thema in der analytischen Handlungstheorie im Rahmen der Entwicklung verschiedener Konzeptionen von sozialer und kollektiver Intentionalität wieder aufgegriffen worden.
Die Argumentationsstrategie der Befürworter kollektiver Verantwortung (wie zum Beispiel Peter French, Larry May, Virginia Held oder Margaret Gilbert) ist in der Regel die folgende: Es werden notwendige Bedingungen dafür formuliert, wann eine Person moralisch verantwortlich ist, von denen angenommen wird, dass sie mehr oder weniger unkontrovers sind. Diese Bedingungen sind: (i) Es besteht eine kausale Verantwortung der Person; (ii) Die Person folgt ihrem freien Willen oder hat zumindest alternative Möglichkeiten oder hat zumindest die Fähigkeit, die Handlung zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund wird dann weiter argumentiert, dass es (zumindest einige) Formen von Kollektivität oder kollektivem Handeln gibt für die gilt, dass diese Bedingungen erfüllt sein können und also kollektive Verantwortung mehreren Personen oder ganzen Organisationen zugeschrieben werden kann.
Ich möchte die These verteidigen, dass es kollektive moralische Verantwortung gibt. Aber ich bin erstens der Meinung, dass nur eine schwächere Interpretation dieser These verteidigt werden kann und ich glaube zweitens, dass die eben beschriebene Argumentationsstrategie nicht überzeugen kann und möchte zeigen, inwiefern sie falsch ist. Vor diesem Hintergrund möchte ich dann drittens einen anderen Vorschlag dazu machen, wie die notwendigen Bedingungen für das Vorliegen von kollektiver Verantwortung lauten könnten.
Die von mir verteidigte These, dass es moralische kollektive Verantwortung gibt, kann folgendermaßen konkretisiert werden: es gibt eine Form moralischer Verantwortung, die weder eine Form indvidueller Verantwortung ist, noch auf eine Summe von Formen individueller Verantwortung reduziert werden kann. Die Träger solch einer kollektiven Verantwortung sind Individuen, aber diese Verantwortung ist weder auf ihre etwaige individuelle Verantwortung reduzierbar, noch hängt sie davon ab, dass solch eine individuelle Verantwortung überhaupt besteht. Eine schwächere Interpretation der These, dass es kollektive moralische Verantwortung geben kann, liegt hier deshalb vor, weil nicht behauptet wird, dass das Kollektiv als Ganzes Träger moralischer Verantwortung wäre.
Warum ist die oben beschriebene Argumentationsstrategie falsch? Das Problem mit Bedingung (i) besteht darin, dass diese Bedingung - angewendet auf Fälle kollektiven Handelns - zu stark ist. Es lassen sich viele Beispiele anführen, in denen wir sagen würden, dass ein Individuum auch dann für eine Handlung und ihre Konsequenzen moralisch verantwortlich sein kann, wenn es in das eigentliche Handlungsgeschehen kausal gar nicht einbezogen ist. Und das Problem mit Bedingung (ii) besteht darin, dass die Standardeinwände der Gegner der These, dass es kollektive Verantwortung überhaupt geben kann, auch auf die von mir vertretene schwächere These zutreffen. Diese Standardeinwände insistieren darauf, dass es schlicht sinnlos ist, Kollektiven verschiedener Art so etwas wie Willensfreiheit oder Entscheidungsfähigkeit zuzuschreiben. Diese Standardeinwände treffen die schwächere These sogar noch härter, denn es liegt auf der Hand, dass die einzelnen Individuen, die ja Träger der kollektiven Verantwortung sein sollen, nicht in der Lage sein können, eine kollektive Handlung frei zu wählen oder hinreichend zu kontrollieren.
Ich möchte alternativ zwei Bedingungen vorschlagen, die für das Vorliegen von kollektiver Verantwortung notwendig sind und die durch die Individuen erfüllt sein müssen, aber auch erfüllt sein können: (i) Das kollektiv verantwortliche Individuum ist Mitglied einer Gruppe oder Organisation, auf die es sich mittels einer Wir-Repräsentation in identifizierender und wahrheitsfähiger Weise beziehen kann: (ii) Das Individuum hat die prinzipielle Bereitschaft innerhalb der Gruppe (oder der Institution) zu kooperieren, und zwar im Hinblick auf die kollektive Handlung, deren Verantwortung in Frage steht. Diese Bedingung prinzipieller Bereitschaft impliziert nicht, dass die Person faktisch kooperiert.
Curriculum Vitae von Dr. Doris Gerber
- Bis 1995: Pädagogik (Erststudium); Philosophie und Geschichte (Zweitstudium) (Tübingen). Abschluss: Magister
- 2001: Bedeutung, Wahrheit und Verstehen. Grundprobleme einer Theorie der Bedeutung (Tübingen)
- Tübingen
- Handlungstheorie und Sozialphilosophie
- Wissenschaftstheorie der Human- und Sozialwissenschaften
- Sprachphilosophie
- 2001 - 2005: Lehrbeauftragte
- 2005 - jetzt: Wissenschaftliche Mitarbeiterin
- Bedeutung, Wahrheit und Verstehen. Grundprobleme einer Theorie der Bedeutung, Paderborn 2005.
- "Kollektive Handlungsintentionen", in: Michael Kober (Hg): Soziales Handeln. Beiträge zu einer Philosophie der 1. Person Plural, Ulm 2005, S. 43-62.l
- "Intentionalität, Geschichte und historischer Sinn, oder: warum Geschichte keine Konstruktion ist", in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 61 (2007), S. 484-502.