Sektionsredner
Professor Dr. Stefan Gandler (Querétrao, Qro., MEX) - Curriculum Vitae
Materialismus und Messianismus bei Walter Benjamin
Abstract
Der „Engel der Geschichte“, von dem Benjamin in der IX. These im Text „Über den Begriff der Geschichte“ spricht, ist mehr als eine bloße Bezugnahme auf das ‚Angelus Novus’ betitelte Bild von Paul Klee. Diese Formulierung steht in direktem Verhältnis zur ersten These, in der Benjamin die Bedeutung der Theologie für den historischen Materialismus, zu welchem er sich anschickt in Zeiten tiefer Krise etwas beizutragen, hervorhebt. Benjamin nimmt sich dabei nicht vor, dem historischen Materialismus den Rücken zu kehren, um sich der Theologie zuzuwenden. Ebensowenig schlägt er vor, den historischen Materialismus mit der Theologie zu mischen, als seien es zwei Komponenten der gleichen Kategorie. Es ist vielmehr darum zu tun, die Theologie in den Dienst des historischen Materialismus zu stellen, damit dieser gegen jeden Herausforderer, vor allem den Nationalsozialismus und den mit ihm einhergehenden Theorien, gewinnen kann.
Die Fähigkeit, von der Unmittelbarkeit der Geschäftigkeiten der Welt Abstand zu nehmen, die im Allgemeinen wegen des Politizismus der Linken nicht entwickelt werden kann, ist es, was Benjamin meint von der Theologie lernen zu können. Zur Zeit des Nationalsozialismus und Faschismus ist diese Überlegung alles andere als selbstverständlich, da es oft gerade die fehlende Distanz zur erlebten Niederlage ist, die im Verrat der eigenen Sache mündet. Die Lehre, die Benjamin aus der vom historischen Materialismus in Dienst genommenen Theologie ziehen will ist die folgende: Das, was heute sichtbar existiert, ist nicht die Totalität, ist nicht das letzte Wort der Geschichte, es gibt etwas außerhalb dieser zerstörerischen Kraft, die fast allgegenwärtig in Benjamins Gegenwart. Es ist die Hoffnungslosigkeit, die in dieser Epoche nach vielen Zeugnissen unter den Nicht-Faschisten und Nicht-Nationalsozialisten vorherrschte, gegen die Benjamin die alte theologische Idee der Hoffnung wieder aufgreift, wenn auch anders als Bloch.
Einer der zentralen Gründe, warum Benjamin sich auf die Theologie bezieht, ist sein radikal kritischer und revolutionärer Impuls, verstanden in dem Sinne, daß das, was scheinbar eine Realität ist, aus der wir in nächster Zeit nicht heraus können („das tausendjährige Reich“), nicht die Totalität des Bestehenden ist. Aber die Radikalität im Begreifen des Bestehenden, die Benjamin die Theologie in den Dienst des historischen Materialismus stellend, vertiefen will, besteht nicht nur in der Art und Weise, den Faschismus und Nationalsozialismus zu sehen und ihm gegenüber zu treten. Seine Kritik des heute vorherrschenden Begriffs der Zeit als stetige (kontinuierliche) und lineare. Auch die Theologie weiß um die Möglichkeit und Notwendigkeit das zeitliche Kontinuum zu unterbrechen. Es existiert in ihr die zentrale Vorstellung, daß es etwas außerhalb, nicht nur dessen, was sich heute materiell aufdrängt, sondern auch außerhalb der tiefsten und am wenigsten hinterfragten begrifflichen Fundamente der gegenwärtig herrschenden Gesellschaftsformation, gibt.
Der Unterschied zwischen der Theologie und dem, was Benjamin von ihr aufgreift, besteht darin, daß Benjamin die Möglichkeit des Bruchs innerhalb dieser Welt sieht. Die „Jetztzeit“ (Benjamin) ist nicht das Jüngste Gericht, und es muß auch nicht auf den eigenen Tod gewartet werden, um sich dieser neuen Zeitkonzeption anzunähern. Die Erfahrung und Praxis vieler Generationen in ihren Akten lebendiger Erinnerung sowie Traditionen haben in sich etwas zentrales dieses Begriffs der „Jetztzeit“. Ein Beispiel könnte in der religiösen Architektur das Baptisterium in Florenz sein. Seine achteckige Form kann als eine Referenz auf den „achten Tag“, das heißt auf den Tag außerhalb der normalen, linearen Zeit, verstanden werden.
Ausgehend von diesen Überlegungen, kann das zentrale Motiv in Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, der rückwärtsblickende Engel der Geschichte, interpretiert werden. Es ist der ENGEL der Geschichte der zurückblickt, wegen der erwähnten Umstände, und er SCHAUT ZURÜCK aus drei Gründen:
Erstens, weil es epistemologisch unvermeidbar und notwendig ist, zurück zu schauen, oder: Der Engel kann nicht nach vorne sehen und muß nach hinten blicken, um seine Umgebung zu verstehen.
Zweitens, weil ontologisch die Zukunft nicht existiert, da der ‚Fortschritt’ keine Tendenz einer Annäherung an eine bessere Zukunft, sondern das Sich-Entfernen vom verlorenen Paradies ist, und weil die Zeit als etwas homogenes, das automatisch voranschreitet, nicht existiert.
Drittens, weil es politisch notwendig ist, nach hinten zu schauen, weil es nicht möglich ist, dem Nationalsozialismus Einhalt zu bieten, wenn er als Ausnahmezustand, der einem unvermeidbaren Fortschritt diametral gegenübersteht, verstanden wird.
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Ersteditionen: Mimeographie: IfS (Hg.), Walter Benjamin zum Gedächtnis, Los Angeles 1942, p. 1-6. / Sur le concept d’histoire: Les Temps Modernes, Paris, 1947, v 3, n 22-27, p 624-634. / In Dt.: Die Neue Rundschau, 1950, v 61, n 4, p. 560-570.
Curriculum Vitae von Professor Dr. Stefan Gandler
- Bis 1992: Philosophie, Politische Wissenschaften, Lateinamerikastudien (Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt a.M. (und kurz: Johannes Gutenberg Universität Mainz)). Abschluss: Magister Artium
- 1997: Adolfo Sánchez Vázquez y Bolívar Echeverría. Zur zeitgenössischen Sozialphilosophie in Mexiko (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main)
- Universidad Autonoma de Queretaro
- Sozialphilosophie in Lateinamerika
- Philosophie des westlichen (undogmatischen) Marxismus / Kritische Theorie
- Für eine nicht-eurozentrische kritische Theorie
- 1997 - heute: Universitätsprofessor für Sozialtheorie und -philosophie, Universidad Autonoma de Queretaro, Mexico
- 2003, Sept. - 2004, Juni: Gastprofessor für Sozialtheorie, Universidad Autónoma de Ciudad Juárez, Mexico
- 2004, Sept. - 2006, Dez.: Gastprofessor für Philosophie (insb. Postgraduiertenbereich), Universidad Autonoma del Estado de Morelos, Cuernavaca, Mexico
- Peripherer Marxismus. Kritische Theorie in Mexiko. Hamburg, Berlin: Argument-Verlag, 1999. Colección: Argument Sonderband Nr. 270, 459 S.
- Marxismo crítico en México, Adolfo Sánchez Vázquez y Bolívar Echeverría. México: Fondo de Cultura Económica / Facultad de Filosofía y Letras UNAM / Universidad Autónoma de Querétaro, 2007, 621 S.
- Teoría Crítica y Alemania. Una conflictiva relación. México: Editorial Itaca, 2008. 210 S. [in Druck]