Sektionsredner
Albrecht Fritzsche, M.A. (Darmstadt)
Wie man eine Maschine belügt – Zum Verständnis von Falschaussagen in der modernen Informationstechnologie
Abstract
Technische Apparate, so scheint es, kann man nicht belügen. Man kann sie nur zweckentfremden oder missbrauchen, was bestenfalls zum Vollzug einer Lüge führt, für sich aber noch keine Lüge darstellt. Diese Ansicht ist solange aufrecht zu erhalten, wie die Zweck-Mittel-Beziehungen der Apparate erschlossen werden können. Der Einzug der modernen Informationstechnologie in unseren Alltag konfrontiert uns wir heute jedoch mit Situationen, in denen das nicht mehr der Fall ist. Mit Christoph Hubig können wir diesen Sachverhalt als einen Verlust der Spuren verstehen: wir sind nicht mehr in der Lage, den Zusammenhang zwischen den Ergebnissen technischer Prozesse und unseren Steuerungsimpulsen aufzuklären. Die Gestaltung der Schnittstelle zwischen uns und der Maschine wird undurchsichtig. Zweckentfremdung und Missbrauch von technischen Apparaten erhalten dadurch eine andere Tragweite als zuvor. Daraus ergibt sich eine Reihe von Konsequenzen, zu denen auch gehört, dass die Frage nach der Lüge neu gestellt werden muss.
Von Zweckentfremdung und Missbrauch eines Rechensystems können wir dann sprechen, wenn wir Informationen eingeben, die vor dem Hintergrund der Handlungsschemata, an denen sich die Entwicklung des Systems orientiert hat, eine Falschaussage darstellen. Dies geschieht zum Beispiel dann, wenn wir nicht unseren eigenen Namen als Benutzerkennung eingeben, wenn wir Suchmaschinen mit Präferenzen starten, die unsere Suchziele nicht korrekt wiedergeben, oder wenn wir auf Internet-Plattformen Profile von uns anlegen, die ein falsches Bild von uns vermitteln. Wir wissen dabei ganz genau, dass von uns eigentlich andere Eingaben erwartet werden. Wir machen also bewusst etwas falsch. Die Problematik besteht darin, dass wir nicht mehr überblicken, wie die Rechensysteme auf unsere Eingangsinformation zugreifen und auf welche Weise unsere Eingaben in den Ergebnissen der Berechnungen wirksam werden.
Jeder Entwurf eines technischen Apparates stellt ein Modell seiner Funktion dar, das Aussagen über den Benutzer enthält. Die Instantiierung des Modells im Vollzug einer Handlung mit dem Apparat erfüllt das Modell nur, wenn der ausführende Mensch diese Aussagen über den Benutzer erfüllt. Zu einem Mittel wird der Apparat dann, wenn wir dieses Modell jederzeit so erweitern und überformen können, dass neue Aussagen über den Benutzer entstehen, die im Rahmen unserer Handlung erfüllt werden. Solange dies möglich ist, macht es keinen Sinn, von Lüge zu sprechen, weil ein jederzeit austauschbares Modell nicht zur Referenz auf Wahrheit verwendet werden kann. Zweckentfremdung und Missbrauch führen dann nur dazu, dass wir dem Apparat ein neues Modell zugrunde legen. Durch die moderne Informationstechnologie wird uns diese Möglichkeit genommen. Das Modell der Wirklichkeit ist nicht mehr hintergehbar; wir kennen zwar die Aussagen, die es über den Benutzer des Apparates enthält, wir können ihnen widersprechen, aber diesen Widerspruch in keinem anderen Modell auflösen.
Dieser Sachverhalt wird normalerweise mit dem Begriff des Mediums thematisiert. Als Medium wird der Apparat Umwelt, an der wir nicht vorbei schauen können. Jede Handlung, die mit dem Apparat vollzogen wird, hat zwar weiterhin einen determinierten Ablauf, aber dieser Ablauf verschwindet vor uns. Der Apparat selbst wird unser Gegenüber. Anders als uns die populäre Medientheorie manchmal glauben macht, sind wir dem Apparat deshalb aber noch nicht ausgeliefert. Uns bleibt weiterhin die Möglichkeit, uns seinem Modell zu widersetzen. In gewisser Weise findet dabei eine Umkehrung barocker Ideen statt: Statt den Menschen auf der Suche nach Wahrheit zur Maschine zu machen, geben wir der Maschine als Adressaten unserer Handlung eine Qualität, durch die es möglich wird, im Umgang mit ihr von Lüge zu sprechen.
Die Vorteile einer solchen Auffassung von Lüge für die Erforschung moderner Informationstechnik sind vielfältig. Zu allererst einmal bietet sich so die Möglichkeit, das Faktum der Falschaussagen bei der Nutzung moderner Informationstechnologie über die Betrachtung von Irrtum oder begrenzter menschlicher Rationalität hinaus fruchtbar zu erschließen. Dabei stellen sich Fragen nach der Begründbarkeit einer Pflicht zur Wahrhaftigkeit im Umgang mit Maschinen und dem Recht auf Lüge in Gegenwart äußerer Zwänge. Die Reichweite dieser Fragen beschränkt sich nicht nur auf den Datenschutz, sondern betrifft die Verantwortlichkeiten für alles Handeln in modernen technischen Umgebungen. So wäre beispielsweise generell zu klären, inwiefern Täuschungen und Verstellungen der eigenen Identität in der Informationstechnologie vermieden werden sollten und wo sie unumgänglich sind, wenn man handlungsfähig bleiben will. Darüber hinaus könnten sich im weiteren Verlauf aus der Auseinandersetzung mit der Lüge im Umgang mit Maschinen auch interessante Rückschlüsse für die allgemeine Diskussion der Lüge ergeben.