Sektionsredner
Nadja El Kassar (Dortmund) - Curriculum Vitae
Erste und zweite Natur – Zu McDowells Begriff der Bildung
Abstract
Dem Problem der Doppelveranlagung des Menschen kommt in der Philosophie besondere Bedeutung zu: einerseits besitzen Menschen natürliche Kennzeichen, andererseits verfügen sie über Vernunft und besitzen damit nicht-natürliche Züge. Nicht-natürlich sind diese Züge aber nur, wenn man einen naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Welt wirft, in der es keine Bedeutung gibt. Innerhalb dieses Verständnisses wird Natur mit dem Reich der Gesetze gleichgesetzt; der „Raum der Gründe“ (Wilfrid Sellars) hat dort keinen Platz. Man begegnet also einer Dichotomie, in der sich auf der einen Seite das Reich der Gesetze, d.i. Natur, und auf der anderen Seite der Raum der Gründe befindet. McDowell (1998) erweitert den Begriff der Natur über das Reich der Gesetze hinaus, indem der Begriff der zweiten Natur eingeführt wird. Ein menschliches Lebewesen, das durch den natürlichen Reifungsprozess der Bildung eine zweite Natur ausbildet, lebt im Raum der Gründe; es verfügt über konzeptuelle Fähigkeiten, wie zum Beispiel Gründe zu verstehen, Gründe zu geben und Entscheidungen zu treffen. Menschen sind also natürlich und leben gleichzeitig im Raum der Gründe.
Grundsätzlich wird die Idee der Entwicklung von zweiter Natur durch Bildung in McDowells Konzeption von zahlreichen Philosophen sehr stark kritisiert. Beispielhaft werde ich in meinem Vortrag von zwei Einwänden von Mischa Gubeljic, Simone Link, Patrick Müller und Gunther Osburg (2000) ausgehen und diese Einwände entkräften.
Der erste Einwand zweifelt an, dass McDowell erfolgreich Menschen als vollständig natürlich zu verstehen vermag und so fragen die Autoren, wie zweite Natur in die Natur insgesamt integriert werden könne (Gubeljic et al. 2000: 48). McDowell (2000) versucht die kritische Nachfrage zu beantworten, indem er darauf verweist, dass es ihm um eine Gegenüberstellung zwischen Natürlichem und Übernatürlichem gehe, in der sowohl erste als auch zweite Natur als nicht-übernatürlich und im Umkehrschluss somit als natürlich zu verstehen seien. Erste und zweite Natur seien zudem verbunden durch den Prozess der Bildung, der Teil des natürlichen Reifungsprozesses von menschlichen Lebewesen sei, vergleichbar mit körperlichen Reifungsprozessen (McDowell 2000: 98). Diese Antwort führt allerdings direkt zum zweitem Einwand von Gubeljic et al., dass nämlich unklar sei, wie das Konzept der Bildung innerhalb der von McDowell angelegten Schnittfläche von erster und zweiter Natur bzw. innerhalb der Überlagerung von Raum der Naturgesetze und Raum der Gründe wirken könne (Gubeljic et al. 2000: 48). McDowells Antwort ist also nicht zufriedenstellend. Daher werde ich in meinem Vortrag eine alternative Antwort aufzeigen, die McDowell im Rahmen seiner Theorie anführen könnte, um die Einwände zu schwächen. Ich möchte zeigen, dass zweite Natur – in einem nicht-trivialen Sinne – sich auch bei Tieren zeigt, die normalerweise als nur erste Natur besitzend angesehen werden. Nicht-menschliche Tiere werden grundsätzlich als Teil der Natur verstanden, anders als bei Menschen zweifelt daran niemand. Wenn es mir gelingt zu zeigen, dass nicht-menschliche Tiere auch eine zweite Natur entwickeln können, dann wäre ein Argument dafür gefunden, dass zweite Natur auch als natürlich zu verstehen ist.
In meiner Antwort auf den zweiten Einwand möchte ich unter anderem Tomasello (2002) heranziehen, um zu zeigen, wie man die Verschränkung von erster und zweiter Natur und die Rolle von Bildung verstehen könnte. Tomasello verweist darauf, dass Menschen ihre Fähigkeiten zum Leben in einer Kultur biologisch erben. Dabei ist die grundlegende Fähigkeit, die ein Mensch erwirbt, andere Menschen als intentionale, geistbegabte, sich selbst ähnliche Lebewesen zu identifizieren. Dieses Erkennen, das biologisch fundiert ist, ist eine notwendige Voraussetzung für menschliches kulturelles Lernen, welches ich als eine Explikation von McDowells Begriff der Bildung einführen möchte. Tomasellos Koppelung von biologisch und kulturell geprägten Merkmalen menschlichen Lebens bietet eine sinnvolle Ausführung zu McDowells knappen Sätzen zu der Entwicklung von zweiter Natur und der Rolle von Bildung. Ich will zeigen, dass mit Hilfe von Tomasellos Konzeption die Entwicklung von zweiter Natur und die Rolle von Bildung erkenntsnisbringend beleuchtet werden kann, ohne dass man eine naturalistische Position annimmt, die McDowell um jeden Preis vermeiden möchte.
Literatur:
Gubeljic, Mischa et al. „Nature and Second Nature“. In: Willaschek 2000. 41-50
McDowell, John. Mind and World. Cambridge, Ma.: Harvard University Press 1998
McDowell, John. „Responses“. In: Willaschek 2000. 91-114
Tomasello, Michael. Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002
Willaschek, Marcus (Hg.). John McDowell: Reason and Nature. Lecture and Colloquium in Münster 1999. Münster: Lit Verlag 2000
Curriculum Vitae von Nadja El Kassar
- Bis 2007: Englisch und Philosophie für Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen (Universität Dortmund, University of Leeds). Abschluss: Erstes Staatsexamen
- Praktische Philosophie
- Erkenntnistheorie
- Philosophie des Geistes
- Januar 2008: Wissenschaftliche Hilfskraft