Sektionsredner
Christoph Durt, M.A. (München)
Eine kohärentistische Lesart von Husserls Universalismus bezüglich des Sinnzusammenhanges von Lebenswelt und Wissenschaft
Abstract
In meinem Vortrag werde ich Husserls Auffassung des Sinnzusammenhanges von Lebenswelt und Wissenschaft beschreiben und seinem Universalismus Wittgensteins kohärentistische Idee der Familienähnlichkeiten entgegen setzen. Auf diese Weise kann die Einigungsfunktion von Husserls Begriff der Lebenswelt bewahrt werden, ohne in einen reduktiven Universalismus zu verfallen.//
Husserl hat mit seinem Werk _Krisis der Europäischen Wissenschaften_ den Keim für alle weiteren – in periodischen Abständen, wie auf diesem Kongress, neu aufblühenden – Konzeptionen des Zusammenhangs von Lebenswelt und Wissenschaft gesetzt. Husserl selbst gesteht allerdings grundsätzliche »Schwierigkeiten« (Krisis 124) ein und wirft immer neue »paradoxe Unverständlichkeiten« (Krisis 178) auf. Seine unter großem Zeitdruck knapp gehaltenen Antworten haben nachfolgende Generationen nicht vollständig überzeugt und vielmehr den Eindruck verstärkt, dass Husserl selbst die Wurzel der Schwierigkeiten nicht klar sah. Ambiguitäten, wie sie beispielsweise von Landgrebe (1978), Carr (1989), Mittelstraß (1991) und Orth (1999) aufzeigen, pflanzen sich oft auch in den Ablegerkonzeptionen fort. Um die Struktur der Ambiguitäten zu klären, schlage ich vor, Husserls Begriff der Lebenswelt auf zwei Dimensionsebenen einzuordnen: Die der Funktion und die des Umfangs.//
Die Lebenswelt als »Welt der wirklich erfahrenden Anschauung« (Krisis, 48) ist der vorgegebene »Horizont aller sinnvollen Induktionen« (Krisis, 48). Die mathematisch-logisch abstrahierte Welt der nach-galileischen Wissenschaften ist nicht die Welt an sich, sondern der tatsächlich erfahrenen Lebenswelt wie eine »Substruktion« untergeschoben. Somit rückt »die ganze Wissenschaft in die bloß ›subjektiv-relative‹ Lebenswelt ein« (Krisis, 132). Die Lebenswelt soll eine Einigungs- und Fundierungsfunktion auf zwei verschiedenartige Weisen erfüllen. So soll sie erstens (a) zeigen, dass alle Theorie letztendlich auf die Lebenswelt als _sinnlich-anschauliche Erfahrungswelt_ bezogen werden muss. Zweitens (b) dient der Begriff der Lebenswelt der Ergründung des Zusammenhanges der von der doxa scheinbar losgelösten Theorien und den bereits in der Anschauung enthaltenden _vortheoretischen Strukturen_. Die Lebenswelt besteht nicht aus einfachen Sinnesdaten, sondern enthält die Gegenstände und Relationen, die wir aus dem Alltag kennen. Ihre Strukturen werden in den objektiven Wissenschaften, Mathematik und Logik auf berechenbare Größen reduziert, dadurch aber nicht annulliert.//
Diese beiden Funktionen der Lebenswelt ziehen Husserls Überlegungen in zwei gegensätzliche Richtungen und er selbst unterscheidet zwischen der Lebenswelt im engerem und im weiterem Sinne. Die Lebenswelt im _weiteren_ Sinne umfasst alle konkret-geschichtlichen und kulturell-relativen Aspekte – Husserl spricht im Plural von den »wechselnden Lebensumwelten der Völker und Zeiten« (Krisis, 150). Die Lebenswelt im -_engeren_ Sinne ist durch eine allgemeine und apriorische Struktur konstituiert. Sie stellt »das Kategoriale« dar und Husserl nennt hier Raum, Zeit, Kausalität und Unendlichkeit. Diese Kategorien sind nicht im Sinne der Physik oder einer anderen Wissenschaft gemeint, sondern im Sinne ihrer alltäglichen Bedeutung. Die »konkrete« Vorstellbarkeit abstrakter Strukturen bei gleichzeitigem Ausschluss kulturrelativer Anschauungsweisen ist allerdings vielfach bezweifelt worden (z.B. Waldenfels 1994) und damit ihr Vermögen, Funktion (a) zu erfüllen. Selbst wenn ein universales Apriori klar isoliert werden könnte, würden so für die weitere Entwicklung von Wissenschaft und Theorie wichtige Strukturen ausgeklammert und damit Funktion (b) nur unzureichend erfüllt.//
Ein kohärentistischer Ansatz, wie ihn beispielsweise Nida-Rümelin (u.a. auf seinem Abendvortrag auf diesem Kongress) vertritt, bietet dagegen eine Möglichkeit, den Sinnzusammenhang zwischen einem die Lebenswelt im engen wie auch im weiten Sinne umfassenden Lebensweltbegriff und der auf sie zurückgehenden theoretischen Betätigung zu ergründen. In diesem Sinne bieten Wittgensteins Untersuchungen zur Familienähnlichkeit und zu Begründungsweisen in _Über Gewissheit_ ein Modell, die Strukturen nicht-universaler Sinnzusammenhänge herauszuarbeiten. Ich werde beschreiben, wie dies geschehen kann und die Unzulänglichkeit von Soffers (1991) Zurückweisung einer Anwendung von Wittgensteins Lösungen auf Husserl aufzeigen. In dem kohärentistischen Licht zeigt sich die Lebenswelt nicht als einheitlich und frei von Brüchen. Die zumindest über Zwischenglieder vermittelten Kohärenzen ermöglichen es aber, den in der neuzeitlichen »Krisis« verlorenen Sinnzusammenhang von alltäglichem Leben und wissenschaftlicher Theorie zu ergründen. Die Lebenswelt erfüllt so zwar keine Fundierungs-, wohl aber eine Einigungsfunktion.//