Sektionsredner
Dr. Johannes Balle (Köln) - Curriculum Vitae
Gefühlte Gründe in praktischen Überlegungen
Abstract
Glaubt man dem Alltagsverstand, so verrät uns das Bauchgefühl zuverlässig, wie wir uns zu entscheiden haben. Während der kalkulierende Verstand oft fehlgehe, führten Gefühl und Intuition verlässlich zur rechten Wahl. Daher stellt sich die Frage: Welchen Stellenwert besitzen Emotionen im Zuge praktischer Entscheidungen? Die Frage ist zu untersuchen, indem 1.) die Struktur von Emotionen und ihr zweifacher „Gründecharakter“ skizziert wird. Danach soll 2.) die Rolle der Emotion im Zuge praktischer Überlegungsprozesse dargestellt werden, indem zwei Varianten von Gründe-Adäquatheit unterschieden werden. Schließlich wird 3.) eine Auffassung praktischer Rationalität favorisiert, welche die eingangs erwähnte lebensweltliche Behauptung zum Teil stützt.
1.) Emotionen werden als Quelle gerechtfertigter Urteile in Analogie zu perzeptiven Gehalten aufgefasst. Damit rechtfertigen Gefühle andere Zustände und Handlungen in der Weise von Sinneswahrnehmungen. Gefühle sind demnach nicht nur Empfindungsqualitäten, sondern besitzen aufgrund ihrer Intentionalität eine wichtige Rolle in alltäglichen Begründungsspielen. Daher fungieren sie wie Urteile, bilden aber ein von diesen unterscheidbares kognitives System. Gefühle verursachen nicht nur andere Zustände, sondern können sie auch rechtfertigen. Es stellt sich also die Frage, was es heißen kann, von der „Rationalität des Gefühls“ zu sprechen. Man könnte zunächst grob zwischen epistemisch angemessenen Gefühlen als objektiven Handlungsgründen und Gefühlen als subjektiv akzeptierten „Gründegebern“ unterscheiden. Ein Gefühl wäre näherhin „rational“, wenn es entweder „strategisch vernünftig“ ist oder „epistemisch vernünftig“. Im ersten Fall dient es einem nützlichen Zweck. Im zweiten Fall ist es insofern rational, als es die Welt in korrekter Weise repräsentiert. Von diesen beiden Varianten zu unterscheiden ist schließlich die stoische Idee einer vernunftgeführten Lebensweise: Hier ist der rationale Umgang mit Gefühlen der springende Punkt.
2.) In praktischen Überlegungen erörtern Personen nicht nur, auf welche Weise vorgegebene Zwecke zu realisieren sind, sondern praktische Überlegungen dienen auch der Ermittlung von Zwecken. Der instrumentalistischen Sichtweise wäre hier eine substantialistische hinzuzufügen. Von Interesse ist, welche Rolle Gefühle im Rahmen praktischer Rationalität spielen. Gefühle, so die These, spielen hierbei eine zentrale Rolle, indem sie der Person als „Bewertungs-Indikatoren“ dienen. Sofern Gefühle Indikatoren epistemischer Adäquatheit sind, sollten wir klären, was genau dies im Zuge praktischer Überlegungen bedeutet. Praktische Deliberation, so die Antwort, ist essentiell auf Gefühle angewiesen, da diese zeigen, welchen Wert eine Sache, Handlung oder Person für uns besitzt. Ohne Gefühle wüssten wir in vielen Fällen daher nicht, was zu tun ist. Die Bedingung der praktischen Indikatorfunktion des Gefühls lautet daher: Die Person sollte potentiell in der Lage sein, ein entsprechendes explizites Urteil auf Grundlage des Gefühls zu formulieren. Dies gilt für die deskripitive als auch normative Bedeutung eines impliziten Gefühlsinhaltes. Die „Akzeptanzbedingung“ impliziert eine zweite These: Das potentielle Urteil besitzt „abduktiven“ Charakter im Sinne eines hypothetischen Erweiterungsschlusses, da epistemische und evaluative Gefühls-Indikatoren in einer für die praktische Identität der Person kohärenten Relation stehen sollten. Gefühle beinhalten also ein epistemisches Element, das Eingang in evaluative Werturteile findet. Das entsprechende Urteil, welches ein Gefühl erst als einen Handlungsgrund autorisiert, ist kein logischer Schluss, sondern der hypothesenbildende Nachvollzug der individuellen praktischen Bedeutung dieses Gefühls.
3.) Die Erfahrung eines Konfliktes zwischen Gefühl und Verstand ist Teil des Selbstverständnisses von Personen. Entscheidend hier ist die Idee des Gründe-Lernens durch Gefühle. Personen erleiden nicht nur Wünsche und Gefühle, sondern setzen sich ihre Zwecke auf der Basis von Impulsen, die sie sich aktiv und abduktiv als Gründe aneignen. Dieser Vorgang besitzt Lerncharakter. Wir sind idealiter nicht nur wie Stoiker in der Lage, unsere Gefühle rational zu kontrollieren, sondern wir sind fähig, zu entscheiden, ob wir dem Gefühl oder dem Urteil recht geben. Nicht nur kultivieren also Urteile unsere Gefühle, sondern umgekehrt vermögen Gefühle auch unsere Urteile zu sensibilisieren. Insofern befinden wir uns in jenem lebenslangen Lernprozess, durch praktisches Überlegen unsere Gefühle zu kultivieren und dadurch unsere Gründe zu verbessern.
Curriculum Vitae von Dr. Johannes Balle
- Bis 1998: Philosophie, Komparatistik, Germanistik, Altphilologie (Tübingen, Bordeaux, Berlin). Abschluss: Magister
- 2002: Kognitive Dynamik, Indexikalität und die Phänomenologie dynamischen Sachbezuges (Technische Universität Berlin)
- Arbeitstitel: Das Gute Wollen. Praktisches Überlegen, personale Autonomie und die Ethik des guten Lebens (Köln (seit 2006))
- Köln
- Philosophie des Geistes und der Person
- Ethik und Handlungstheorie
- Phänomenologie
- 1999: Lehrbeauftragter
- 2003 - 2003: Wissenschaftlicher Mitarbeiter
- 2004: Gymnasiallehrer
- Gedanken in Bewegung. Zur Phänomenologie dynamischen Sachbezuges. Würzburg 2003
- Indexikalität, kognitive Dynamik und praktisches Überlegen. In: Beiträge der Österreichischen L. Wittgenstein Gesellschaft XII. Kirchberg: ÖLWG 2004. Kirchberg 2003
- Husserls typisierende Apperzeption und die Phänomenologie dynamischer Intentionalität. In: Phänomenologische Forschungen. Erscheint 2008.