Sektionsredner
Priv.-Doz. Dr. Stefan Artmann (Jena) - Curriculum Vitae
Agents provocateurs. Für eine transaktionale Ethik migrierender Programme
Abstract
Die Entwicklung neuer Techniken wird einerseits durch die Bedürfnisse von Menschen motiviert; andererseits verändern sich diese Bedürfnisse infolge des technischen Fortschritts. Wenn insbesondere Informationstechniken nicht nur neutrale Instrumente für die Erfüllung vorgegebener Ziele darstellen, dann ist es letztlich die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den möglichen Mitteln und Zwecken informationellen Handelns, auf deren Entwicklung jede pragmatistische Informationsethik Einfluss nehmen will. Mit ‘informationellem Handeln’ sei intentionales Verhalten gemeint, das konstitutiv auf digitale Informationstechniken zurückgreift.
Im Pragmatismus des späten John Dewey heisst ‘Interaktion’ eine Untersuchung dynamischer Relationen im Sinne von Wechselwirkungen unabhängig voneinander bestimmbarer Relata; demgegenüber versteht Dewey unter ‘Transaktion’ eine Untersuchung dynamischer Relationen im Sinne von Herausbildungen interdependent aufeinander beziehbarer Relata. Entsprechend lautet der grundlegende hypothetische Imperativ einer transaktionalen Ethik informationellen Handelns: Wenn der Einsatz von Informationstechniken der bestmöglichen Befriedigung informationeller Bedürfnisse und ihrer reflexiven Aufklärung dienen soll, dann muss sowohl die Gestaltung jener Techniken als auch die Entwicklung dieser Bedürfnisse an der Interdependenz beider Prozesse orientiert werden. Exemplarisch kann dies an der aktuellen Softwaretechnik der mobilen Agenten gezeigt werden.
Mobile Agenten sind Programme, die in Computernetzen auf einem vorher nicht festgelegten Weg von einem Rechner zum nächsten wandern, um dank ihrer Wechselwirkung mit verteilten Informationssystemen selbständig und effizient eine vorgegebene Aufgabe gemäss den Präferenzen ihres Nutzers zu erfüllen. Anwendungsszenarien (etwa im Jenaer MobiSoft-Projekt) bilden z.B. der Einsatz mobiler Agenten als Projektassistenten bei der Organisation komplexer Produktionsprozesse und als Vermittler von Kommunikation zwischen Gleichinteressierten in unübersichtlichen sozialen Gruppen.
Für mobile Agenten ist das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Repräsentanz charakteristisch. Einerseits müssen sie den Nutzer im Netz repräsentieren, indem sie dessen Zielen entsprechende Aktivitäten der verteilten Systeme hervorrufen. Andererseits sollen sie ohne kontinuierliche direkte Steuerung durch den Nutzer über ihren Weg im Netz entscheiden, so dass sie hinsichtlich ihres Migrationsverhaltens autonom agieren.
Die Programmierung des Verhaltens mobiler Agenten in verteilten Systemen soll aus der transaktionsethischen Perspektive auf den instrumentell-finalen Doppelcharakter dieser Agenten betrachtet werden. Der erste Schritt hierzu besteht darin, bei der Entwicklung mobiler Agenten den Nutzer nicht nur als Instanz der Zwecksetzung und das Programm nicht bloss als Mittel der Zweckrealisierung zu verstehen. Statt dessen sollen dank der Reflexion über die Interdependenz von Mitteln und Zielen im informationellen Handeln softwaretechnische Designprinzipien für das Verhalten mobiler Agenten in verteilten Systemen aufgestellt werden. Hierdurch ist das Spannungsverhältnis von Autonomie und Repräsentanz mobiler Agenten konstruktiv auszuwerten: Während der Repräsentationsaspekt die Instrumentalität eines Agenten für den zwecksetzenden Nutzer betont, unterstreicht der Autonomieaspekt die Kompetenz eines Agenten, in gewissen Grenzen Unterziele bei seiner Aufgabenerfüllung zu definieren. Gerade die relativ selbständige Zweckverwirklichung durch einen mobilen Agenten, welche die Chance erhöht, dass letzterer überraschende – also informative – Ergebnisse erzielt, macht es wahrscheinlicher, dass der Nutzer, den der Agent vertritt, sich herausgefordert fühlt, seine Zielsetzungen im Lichte der Resultate des Einsatzes seines Agenten zu verändern.
Ein Designprinzip, welches die Spannung zwischen Autonomie und Repräsentanz exemplarisch umsetzt, fordert, dass ein mobiler Agent nicht nur den explizit vorgegebenen Präferenzen seines Nutzers folgen darf, sondern – gemäss der berechtigten Annahme, dass sich diese schon verändert haben könnten, wenn der Nutzer über die bereits gesammelten Informationen verfügte – nebenläufig auch denjenigen Präferenzen folgen können soll, welche die wahrscheinlichsten Veränderungen im Nutzer repräsentieren. In Übereinstimmung mit dem hypothetischen Imperativ der transaktionalen Informationsethik wird es dem Nutzer hierdurch erleichtert, den Möglichkeitsraum der Ziele für den Einsatz seines mobilen Agenten zu erkunden. Softwaretechnisch ist dieses Experimentieren mit der Interdependenz zwischen den Mitteln und den Zwecken des informationellen Handelns durch die autonome Variation eines mobilen Agenten realisierbar: Er muss sich auf seinem Weg durch das Computernetz mit leicht veränderten Präferenzen in begrenzter Anzahl selbst reproduzieren können.
Curriculum Vitae von Priv.-Doz. Dr. Stefan Artmann
- Bis 1996: Philosophie, Germanistik, Politikwissenschaft (Düsseldorf, Bonn). Abschluss: M.A.
- 1999: Theorie des strukturalistischen Subjekts (Düsseldorf)
- 2008: Historische Epistemologie der Strukturwissenschaften (Jena)
- Friedrich-Schiller-Universität Jena
- Philosophie der Information und des Computers
- Wissenschaftstheorie der Strukturwissenschaften
- Wissenschaftstheorie der Biologie
- 2000 - 2003: Postdoktorandenstipendiat
- 2003 - 2008: Wissenschaftlicher Mitarbeiter
- Historische Epistemologie der Strukturwissenschaften, erscheint 2008.
- Biological Information, in: Sahotra Sarkar and Anya Plutynski (eds.), A Companion to the Philosophy of Biology, Malden/MA and Oxford 2008, pp. 22-39.
- Theorie des strukturalistischen Subjekts, Essen 2000 (Genealogica Bd. 28).