Sektionsredner
Dr. Markus Rothhaar (Erlangen-Nürnberg) - Curriculum Vitae
Zwischen Kant und Grundgesetz: die Würde des Menschen und das Problem des „Zwecks an-sich“
Abstract
Nachdem über lange Zeit im Mittelpunkt öffentlicher Diskurse stand, wem Menschenwürde zukommt, ist in den letzten Jahren zunehmend fraglich geworden, was es in normativer Hinsicht überhaupt bedeutet, dass einem Wesen Menschenwürde zukommt.
Während die Mehrzahl der philosophischen Literatur zum Thema hier zu einer „reduktionistischen“ Auffassung neigt, tendieren die Rechtswissenschaften gegenwärtig größtenteils zur zweiten. Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG hätte nach dieser Theorie mithin normenlogisch und rechtsdogmatisch den Status eines speziellen subjektiven Grundrechts; von anderen Rechten würde sich das „Recht auf Menschenwürde“ andererseits aber auch grundlegend unterscheiden, indem es entsprechend seiner Auszeichnung als „unantastbar“ jeder Abwägung gegen andere Rechte prinzipiell entzogen wäre. Die reduktionistische Auffassung dagegen sieht den Schutz der Menschenwürde subjektivrechtlich durch die einzelnen Menschenrechte gewährleistet, ist aber mit dem Problem konfrontiert, dass es im Rahmen einer auf dem Paradigma der Abwägung von Rechten basierenden Grundrechtsdogmatik dann offensichtlich keine unabwägbaren Rechte geben kann.
Die „nicht-reduktionistische“ Auffassung der Menschenwürde geht zurück auf die sogenannte „Objektformel“ Günter Dürigs, die ihrerseits eine Paraphrase der Zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs. Faktisch hat die komplexe Konzeption Dürigs dahin geführt, dass „Menschenwürde“ heute - in der politisch-gesellschaftlichen Debatte wie auch in der juristischen Praxis - weitgehend verstanden wird als ein unabwägbares Recht, „nicht als bloßes Mittel zum Zweck“ behandelt zu werden.
Eine philosophische Reflexion dieses Menschenwürde-Konzepts erfordert unvermeidlich einen Rückgang auf Kant. In der Tat gehört Kants Forderung, jede Person immer auch als Zweck und nie bloß als Mittel zu behandeln, zu denjenigen philosophischen Sätzen, die jedem unmittelbar etwas sagen oder „irgendwie“ einleuchten, die bei näherer Betrachtung aber doch ausgesprochen dunkel sind. Dabei geht es vor allem um die Frage, inwiefern überhaupt sinnvoll von Personen als „Zwecken“ geredet werden kann und was Kant mit dieser Bestimmung eigentlich in normativer Hinsicht im Blick hat.
Befragt man die die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten darauf hin, so stellt man fest, dass Kant zumindest zwei Lesarten anbietet. Nach der einen bedeutet, einen Menschen nie „bloß als Mittel zum Zweck“ zu behandeln offenbar nichts anderes, als ihn so zu behandeln, dass er einer Handlung, deren Objekt er ist, jederzeit selbst zustimmen kann und den Zweck jener Handlung dabei sozusagen zu seinem eigenen Handlungszweck machen kann. Er würde also insofern als „Zweck an-sich“ behandelt, als er sich den fremden Handlungszweck als seinen Handlungszweck aneignen kann. Legt man diese Lesart zugrunde, so ergibt sich gerade aus der „Zweck-an-sich-Formel“ ein starkes Argument für die „reduktionistische“ These, nach der die Menschenwürde Grund und Prinzip der Menschenrechte darstellt, nicht aber ein spezifisches subjektives Recht. Die Würde des Menschen bildet dann im wesentlichen nichts anderes als das Moment des Deontologischen selbst an einer streng deontologisch gedachten Ethik: Sie den Umstand, dass Pflichten kategorisch gelten, liefert aber selbst keinerlei spezifische Pflicht. Anders als nach allen zeitgenössischen Menschenwürdetheorien wäre bei Kant damit freilich jegliche Verletzung einer Norm, die sich aus dem Kategorischen Imperativ in der Ersten Formulierung ergibt, also z.B. bereits eine „alltägliche“ Lüge, eine Menschenwürdeverletzung.
Daneben bietet Kant aber noch eine zweite Lesart an, nach der „Zweck an-sich“ dasjenige bezeichne, „dessen Dasein an sich selbst absoluten Wert“ hat. Späterhin wird diese Aussage durch den Begriff eines nicht-relativen und daher mit keiner subjektiv-endlichen Zwecksetzung verrechenbaren „inneren Wertes“ präzisiert und von daher der bekannte Unterschied zwischen Preis und Würde herausgearbeitet. Mag diese Bestimmung in erster Linie eine begründende Funktion für die erstgenannte haben, so weist sie doch, wie der Vortrag näher zeigen wird, Spezifika auf, die in der ersten Lesart nicht restlos aufgehen. Im Ausgang davon soll ein Vorschlag für eine die „reduktionistische“ These modifizierende Theorie der Menschenwürde entwickelt werden, die beide Lesarten miteinander kombiniert, dabei aber den Rahmen der Kantischen Philosophie überschreitet. Nach diesem Vorschlag wäre unter „Menschenwürde“ nicht nur das Prinzip und der Rechtfertigungsgrund der Menschenrechte zu verstehen ist, sondern ebenso sehr das Prinzip der Unabwägbarkeit genau derjenigen fundamentalen Rechte, die unmittelbaren Bezug auf den absoluten Wert des Daseins von Personen haben. Um diese Rechtspflichten präzise eingrenzen zu können, ist für Fälle der Notwehr und Nothilfe ergänzend eine Theorie der Pflichtenausnahme erforderlich, die selbst deontologisch ist und nicht auf Rechtsgüterabwägungen beruht.
Curriculum Vitae von Dr. Markus Rothhaar
- Bis 1995: Philosophie, Geschichte, Biologie (Saarbrücken, Heidelberg, Tübingen). Abschluss: M.A.
- 1999: Metaphysik und Negativität (Tübingen)
- FAU Erlangen-Nürnberg
- Theoretische und Angewandte Ethik
- Rechtsphilosophie
- Deutscher Idealismus
- 2000 - 2001: Wissenschaftlicher Mitarbeiter Evelyne Gebhardt, MdEP
- 2002 - 2005: Referent der SPD-Bundestagsfraktion für die Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin
- 2006 - 2007: Lehrbeauftragter Universität Potsdam