Sektionsredner
Matthias Richard Kraska (Witten-Herdecke)
Kompensation von Arzt-Patient-Asymmetrien im Rahmen einer realistischen Theorie kommunikativen Handelns
Abstract
Nach einer sehr bekannten Typisierung von Emanuel & Emanuel kann die A/P Beziehung vier Grundmuster aufweisen (E.J. & L.L. Emanuel, Four Models of the Physician-Patient-Relationship, JAMA Nr. 267, 1992). Die Autoren schematisieren diese Muster idealtypisch und bezeichnen sie als „paternalistisches“, „informatives“, „interpretatives“ und „deliberatives Modell“. Sie stellen dabei jeweils die Wünsche des Patienten den Verpflichtungen des Arztes gegenüber. Aus dem jeweiligen Idealtypus leiten sie sowohl Konzeptionen der Patientenautonomie, als auch der Arztrolle ab, um die Frage nach dem 'richtigen' Arzt-Patient-Verhältnis schließlich mit dem „deliberativen Modell“ zu beantworten. Diese Präferenz wollen sie auch im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses geltend machen.
Wir zeigen im ersten, kritischen Teil unseres Vortrags zunächst, dass es Emanuel & Emanuel weder gelingt, die normative Bedeutsamkeit für die Bewertung und ggf. Verbesserung realer Arzt-Patient-Kommunikationsverhältnisse deutlich zu machen, noch die gemeinsame Wurzel ihrer „Modelle“ im Arzt-Patient-Verhältnis zu lokalisieren. Die sogenannten Modelle sollten besser als selektive Gesichtspunkte aufgefaßt werden, die in einem breiten Spektrum von Asymmetrien auftauchen, die spezifisch für jede Arzt-Patient-Beziehung als solche sind. - Im zweiten Teil ziehen wir konstruktive Konsequenzen aus Emanuels Ausgangsbeobachtung einer „potentiell unausgewogenen Natur“ des Arzt-Patient-Verhältnisses. Wir stellen die zwiespältige Rollen von Asymmetrien kommunikationsphilosophisch in den Mittelpunkt und zeigen, dass Asymmetrien unterschiedlicher Art einerseits eine Gefährdung von Kommunikation darstellen, andererseits aber auch konstitutiv für Kommunikationsintentionen sein können, und dies nicht nur in professionsspezifisch geprägter Handlungssituationen wie der ärztlichen Behandlungssituation. So regelt bspw. erst die defizitäre Lage des Patienten das Aufsuchen des Arztes und den kommunikativen Erwartungshorizont, in dem der Arzt auftaucht. Zu den einschlägigen formativen Asymmetrien im Arzt-Patient-Verhältnis gehören: Expertise (Asymmetrien in know how und know that), Professionsstatus (Legitimation innerhalb des Gesundheitssystems), einseitig geregelte Grenzüberschreitungen (z.B. in der ärztlichen Untersuchung) bis hin zur Kopplung der Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit an die Rollen von Arzt und Patient. Wir behaupten: Für jede kommunikationsrelevante Asymmetrie lässt sich zeigen, wie sie einerseits die Funktion einer Verschiebung von Macht erfüllt, komplementär aber auch die Funktion erfüllt, durch Eröffnung kommunikativ wirksamer Idealisierungen solche Verschiebungen beobachtbar, thematisierbar und ggf. reversibel zu halten. Kommunikationsrelevante Asymmetrien sind sozusagen selber der Schlüssel zu jeweils spezifisch auf sie bezogenen Kompensationsmechanismen.
Es geht uns darum, einen analytischen Ansatz, der mit dem Begriff von kommunikationsrelevanten Asymmetrien operiert, zu entwickeln, mit dessen Hilfe institutionell geprägte Interaktionsmuster (am Beispiel der Arzt-Patient-Interaktion) erfahrungsnäher und realistischer analysiert werden können als mit einem Ansatz, der (wie bei Emanuel & Emanuel) idealtypisierend verfährt, tatsächlich aber schematisch und deshalb wirklichkeitsfern bleibt. Zugleich bietet das Asymmetrie-Kompensationsmodell der Kommunikation eine realistische Korrektur an - und Weiterentwicklung von - formalpragmatischen Modellierungen von Kommunikation, die die Koordinierung von Handeln durch Konsens („kommunikatives Handeln“ sensu Habermas) idealisieren.