Sektionsredner
Professor Dr. Bolívar Echeverría Andrade (Mexico-Stadt, MEX) - Curriculum Vitae
Die „amerikanische“ Moderne
Abstract
Bolívar Echeverría
Die “amerikanische“ Moderne
Abstract
Gibt es zwischen dem XX. und dem XIX. Jahrhundert einen wesentlichen Unterschied in ihrer Weise “modern” zu sein? Sollte die “amerikanische” Gestalt des zivilisatorischen Projektes der Moderne als eine konsequente Nachfolge und eine Vervollständigung der “europäischen” Gestalt verstanden werden, die es durch mehrere Jahrhunderte angenommen hatte, oder vielmehr als eine Entgleisung und eine Vereinfachung derselben?
Im vorliegenden paper wird eine Antwort auf diese Frage versucht. Sie stützt sich dazu auf eine Definition des modernen Projektes der Zivilisation, die sich aus der Marxschen Theorie der Entfremdung entwickeln lässt, vor allem aus der Charakterisierung des kapitalistischen Produktions- und Lebensprozesses als durch den Widerspruch zwischen seiner “Naturalform” und “Wertform” determinierten. [...]
Der Unterschied zwischen “amerikanischer” und “europäischer” Moderne zeigt sich, wenn in Betracht gezogen wird, in welchem Ausmass und mit welcher Radikalität dieses Programm der kapitalistischen Moderne in beinen Fällen je realisiert wird. Während in letzterem der “Wille” des kapitalistischen Wertes sich im Konflikt und Kampf mit der Aktion anderer Modernisierungs-Projekte durchsetzen muss und deswegen dort sein absolutes Ziel als nicht erreichbares erfahren wird, wird in der ersten, in der die Verwirklichung jenes “Willens” anscheinend frei und reibungslos voran gehen kann, das Illusorische seines absoluten Zieles nicht nur nicht erkannt, sondern als ein schon zum Faktum gewordener “Traum” gefeiert.
Diese “amerikanische Hybris”, die darin besteht, die “Logik des Gebrauchswertes” und der “natürlichen Natur” im menschlichen Reproduktionsprozesses durch eine “Logik des Waren-Wertes” und “artifizielle Natur” zu ersetzten, konnte nur in solch einer geschichtlichen Situation aufkommen, wie derjenigen der puritanischen Gemeinde in der “neuen Welt”: Dort konnte der Anteil der Natur an der Erzeugung des objektiven warenmässigen Reichtums der Gesellschaft, im Vergleich zum Anteil der objektivierten Arbeit, relativ klein sein, deswegen die “äußere” oder natürliche Wirklichkeit als eine bloße Reaktion oder Wiederspiegelung der “inneren” oder metaphysischen Wirklichkeit des menschlichen Subjektes erfahren werden konnte. Im Gegensatz zu diesem kleinen Anteil der Natur an der Erzeugung des objektiven warenmässigen Reichtums der Gesellschaft war dort der naturmässige Reichtum relativ gewaltig groß, wegen der für europäische Massstäbe immensen Großzügigkeit des Territoriums.)
Die “amerikanische” Moderne schien am Anfang, im XVII. Jahrhundert, als sie gerade nach Amerika exportiert wurde, eine unbedeutende Abzweigung der europäischen Moderne zu sein, die durch ihre Weltfeindlichkeit zu keinerlei größeren Taten und einer obskuren Zukunft berufen war. Doch die göttliche Gabe eines überreichen, von Menschen “leeren” Kontinents war eine Segnung, die ihr eine neue merkwürdige „Weltfreundlichkeit“ lehrte, mit einer Welt, die konstitutiv warenmässig war und in der das Artifizielle, die wertbildende Arbeit, als das Entscheidende erfahren wurde.
Als Jahrhundert des Fortschritts, in dem die europäische Moderne sich selbst zur Vervollkommnung der menschlichen Zivilisation stilisierte, war das XIX. Jahrhundert, gemessen an den Ansprüche des Kapitals, die Epoche in der gerade jene Moderne die Absicht aufgeben musste, jemals das Ziel der totalen Subsumtion zu erreichen, das radikale Programm der kapitalistischen Moderne zu Ende zu bringen. [...] Die europäische Moderne mündete in die Französische Revolution und ihr kommunistisches Wiederkommen, und beide, die seitdem in der verneinten Dimension der Politik als eine “unvollständige Aufgabe” gelten, haben sie unterminiert und ihren endgültigen kapitalistischen Erfolg unmöglich gemacht. Der Eingriff des Nazi-faschismus in die Geschichte Europas war der letzte, katastrophale Versuch der europäischen Moderne, ein Unternehmen schon „amerikanischen“ Massstabes, mit ihren veralteten und dürftig gewordenen Mitteln, verzweifelt anachronistisch anzufangen.
Ganz anders verhält es sich mit der “amerikanischen” Moderne. Sie hatte bereits das Programm der kapitalistischen Moderne relativ konfliktlos beendet und sich der Illusion der totalen Subsumtion ganz ergeben, doch alles nur im lokalen, nordamerikanischen Geltungsbereich. Nachdem sie dann am Ende des XIX. Jahrhunderts wieder mit der europäischen Moderne zusammengefunden hat, übernimmt sie die Vervollständigung des Projekts, an dem letztere gescheitert war. Das XX. Jahrhundert, das Jahrhundert der “amerikanischen” Moderne, wird somit zur Epoche in der das Programm der totalen oder absoluten Subsumtion der “Naturalform” unter die “Wertform” des Lebens und der Lebenswelt mit neuen und potenzierten Kräfte unternommen wird – die Epoche in der die “amerikanische Hybris” und ihre Illusion, sich selbst verwirklicht zu haben, zu einem universalen Phänomen geworden sind.
Curriculum Vitae von Professor Dr. Bolívar Echeverría Andrade
- Bis 1975: Philosophie, Ökonomie (Freie Univertsität Berlin, Universidad Autónoma de México). Abschluss: Dr.
- 1966: Der Begriff der Freiheit in Sartre (Freie Universität Berlin)
- 1979: La modernidad barroca (Universidad Autónoma de México ma de México)
- Universidad Nacional Autónoma de México
- Theorien über die Moderne
- Das Barocke und die Moderne
- 1972 - 1979: Professor: politischen Ökonomie
- 1979 - ---: Professor: Philosophie
- El discurso crítico de Marx, ERA, México 1985
- La modernidad de lo barroco, ERA, México 1999
- Vuelta de siglo, ERA, México 2006